Ein leichtes Mädchen
Was soll Naïma mit ihrem Leben anfangen? Ein vielschichtiger Coming-of-Age-Film vor der schönen Kulisse Südfrankreichs.
Die 16-jährige Naïma (eindrucksvoll: die Debütantin Mina Farid) ist an der Côte d’Azur in Cannes zu Hause, wo der Alltag von der Tourismusbranche beherrscht wird, ihre Mutter arbeitet als Zimmermädchen in einem Luxushotel. Gerade ist Ferienzeit, die Straßen sind voller schöner und kultivierter Menschen. Doch das Mädchen nimmt vom mondänen Leben der Reichen wenig wahr, Naïma lebt in der Parallelwelt der dienstleistenden Schicht, in deren Wohnungen man auf tristen Balkons sitzt und auf Bahngleise starrt. Soeben hat sie die Schule abgeschlossen, aber noch keine Pläne für die Zukunft. Überhaupt ist ihr Radius ziemlich eingeschränkt, Naïma ist eben keine weltgewandte junge Dame. So ist sie sich nicht einmal im Klaren darüber, wie nah Italien liegt, wohin man einen Ausflug machen könnte.
Als die ältere Cousine Sofia (mit Raffinement dargebotenes Debüt der illustren Zahia Dehar, die als minderjährige Escortdame in einen Sex-Skandal verwickelt war) aus Paris zu Besuch kommt, eröffnet dieseNaïma eine völlig fremde Welt, die sie magisch anzieht. Mit Vergnügen und aus Lust am Entdecken schließt sie sich der Cousine an. Plötzlich eine Chanel-Handtasche oder eine imposante Uhr am Arm zu tragen, macht Laune und hinterlässt Eindruck. Mit großem Interesse beobachtet sie, wie sich ihre Cousine stylt. Es braucht enormen Aufwand, ihre Schönheit ist das Produkt harter Arbeit und künstlich hergestellt. Durch Operationen hat sich Sofia ‚selbst optimiert’, sie stellt ihre Reize freizügig aus: eine stolze, junge Frau mit sinnlich aufgeworfenen Lippen, samtiger Stimme und ‚perfekten’ Brüsten. Schon von fern zieht sie die Blicke reicherer, älterer Männer auf sich, verführt sie und lässt sich von ihnen aushalten. Sofia genießt diese lustvollen Abenteuer, ihr ‚Ruf’ kümmert sie überhaupt nicht. So darf Naïma mit der Cousine einige Zeit auf einer pompösen Yacht des brasilianischen Multimillionärs und Lebemanns Andres und seines Assistenten Philippe verbringen. Dabei macht sie aber auch Bekanntschaft mit den hässlichen Angewohnheiten dieser Schicht, deren Langeweile und Launen man ausgeliefert ist.
Rebecca Zlotowski hat eine wunderbar stimmige Feriengeschichte geschaffen, die beim diesjährigen Filmfestival in Cannes in der Sektion Quinzaine des Réalisateurs ausgezeichnet wurde. Die Atmosphäre bezaubert durch ihre Musikalität, sie ist geschmackvoll fotografiert, womit sie zugleich die Lebensmaxime von Sofia und des Millionärs Andres sinnlich illustriert: Schönes ist dazu da, es zu genießen. Gleichzeitig gelingt es der Filmemacherin, sich dabei existentiellen Fragen junger Menschen zu widmen, aber auch zu provozieren. Naïma weiß noch nicht, wozu sie beruflich befähigt ist und ob sie eine Ausbildung machen will. Dieser Entscheidung weist Zlotowski aber zentrale Bedeutung zu und hebt zugleich auf deren Unwägbarkeiten ab. An den Anfang ihrer Geschichte hat sie eine unbequeme Erkenntnis des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal gestellt: „Das Wichtigste im Leben ist die Wahl eines Berufs. Der Zufall entscheidet darüber.“ Nicht nur Sofias Lebenswandel, der ja in gewisser Weise auch Arbeit bedeutet, könnte Naïma als Vorbild dienen, genauso gut könnte sie einen Beruf wie Assistent Philippe ergreifen, der sich selbst für einen Kultursklaven hält. Zlotowski macht nun deutlich, dass deren Form von Arbeit große Abhängigkeiten schafft, von feudalen Strukturen und Willkür durchzogen ist. Präzise spürt die Regisseurin die „feinen Unterschiede“ im Sinne Pierre Bourdieus in dem Beziehungsgeflecht des Millionärs auf, in das Sofia als Kapital ihren schönen Körper einbringt und Philippe seine kulturelle Bildung. Andres ist über Moral, über jede Art von Regeln erhaben, mit Geld kann er sich alles leisten. Er will unterhalten sein, Menschen dienen zur Befriedigung seiner Lust oder demonstrieren seine Potenz. Als er Sofia überdrüssig ist, wird sie als Diebin beschuldigt und einfach vom Boot gejagt. Danach legt er mit seiner Yacht ab und wendet sich neuen Abenteuern zu. Durch diese Erfahrung gereift, weiß Naïma genau, welchen Beruf sie ergreifen will. Der ist jetzt selbstgewählt.
Heidi Strobel
Une fille facile - Frankreich 2019, Regie: Rebecca Zlotowski, Kinostart: 12.09.2019, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 92 Min. Buch: Rebecca Zlotowski, Teddy Lussi-Modeste. Kamera: Georges Lechaptois. Schnitt: Géraldine Mangenot. Produktion: Frédéric Jouve. Verleih : Alamode/Wild Bunch Darsteller*innen: Mina Farid (Naïma), Zahia Dehar (Sofia), Benoît Magimel (Philippe), Nuno Lopes (Andres), Clotilde Courau (Calypso) u. a.
Altersempfehlung 14-18 Jahre
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