Fight Girl
Ein Mädchen boxt sich durch. Und zwar wortwörtlich. Der Preisträgerfilm des EFA Young Audience Award 2019.
Schon lange ist die Kampfsportart Kickboxen nicht mehr vor allem etwas für Jungen und männliche Jugendliche. Viele junge Frauen haben diesen Sport ebenfalls für sich entdeckt. Nicht etwa, weil er der Selbstverteidigung dient und das Selbstwertgefühl stärkt, sondern weil er der Fitness dient. Bei der zwölfjährigen Bodil, genannt Bo, die nach der Trennung ihrer Eltern zusammen mit der Mutter und dem älteren Bruder Dani in einen Vorort von Amsterdam ziehen muss, liegen die Dinge allerdings etwas anders. Bo hat eine Stinkwut auf ihre Eltern, weil diese sich auf dem Rücken ihrer beiden Kinder ständig streiten und sich Bo durch den Umzug in ein großes Mietshaus obendrein auf sehr beengte Wohnverhältnisse einstellen muss. Ihre Wut lässt sie spontan an anderen aus, während ihr musisch begabter Bruder, der von einer Karriere als Gitarrist in einer Band träumt, seinen Schmerz mehr nach innen kehrt und wegen seiner chronischen Unterzuckerung dem Spott der Schulkameraden ausgesetzt ist.
Fast zufällig entdeckt Bo das Kickboxen für sich. Sie folgt ihrer neuen Nachbarin Joy, die auf der Straße etwas verloren hat, einfach in einen unterirdisch gelegenen Fightclub. Dort erkennt die Leiterin des Clubs ihr natürliches Talent für die Sportart und gibt ihr trotz erheblicher Bedenken eine Chance, damit sie für die nationalen Meisterschaften trainieren kann. Um bei Wettkämpfen wirklich Erfolg zu haben, muss Bo allerdings erst lernen, ihre unkontrollierte Wut in geordnete Bahnen zu lenken und die klaren Regeln des Kampfsports zu akzeptieren. Keine leichte Aufgabe angesichts der psychischen Belastungen durch die bevorstehende Scheidung der Eltern und die ständige Sorge um ihren introvertierten kranken Bruder. Zudem macht Bo einen schweren Fehler, durch den sie sich aus dem Wettkampf zu katapultieren droht.
Regisseur Johan Timmers erzählt in seinem zweiten Spielfilm eine doppelte Coming-of-Age-Geschichte. Denn obwohl Bo eindeutig im Mittelpunkt des Films steht, sich nicht nur im Ring vom „Kätzchen“ zum „Tiger“ wandelt und im Fightclub in ihren Mitkämpfer*innen Joy und Jesse echte Freunde findet, werden parallel die Schwierigkeiten ihres Bruders Dani mit dem Erwachsenwerden erzählt. Wie seine Schwester muss auch Dani allen Mut zusammennehmen, um den eigenen Weg zu finden, sein Talent zu nutzen und der Leadsängerin der Band seine Zuneigung zu gestehen.
Für die bei den Dreharbeiten 15-jährige Hauptdarstellerin Aiko Beemsterboer als Bo war es übrigens bereits die sechste Filmrolle ihrer Karriere. In Deutschland war sie zuvor in „Allein unter Schwestern“ (2017) zu sehen. Um als Kickboxerin möglichst authentisch zu wirken und kein Double für die Kampfszenen zu benötigen, bereitete sie sich vier Monate lang intensiv vor und übte die Sportart an mehreren Tagen in der Woche. Diese Anstrengung hat sich gelohnt, denn sie trägt mit ihrer Präsenz diesen Film und man nimmt ihr die Rolle voll ab. Durch seine konsequente Farbdramaturgie, mit der die inneren Gefühlslagen der beiden Hauptfiguren visualisiert werden, und überraschende Kameraperspektiven, die das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz zur eigenen Person gleichermaßen wie zu den Mitmenschen unterstreichen, ist „Fight Girl“ auch in formaler Hinsicht sehenswert.
Bis auf das dann doch etwas dick aufgetragene Ende legt der Film großen Wert darauf, die einzelnen Lernfortschritte und Rückschritte von Bo dem Publikum nachvollziehbar zu machen – und das gilt vor allem auf mentaler Ebene. Denn es reicht nicht, mit dem Bauch zu kämpfen. Der Kopf muss die Kontrolle übernehmen. Eine Botschaft, die zusammen mit der spannenden visuellen Umsetzung europaweit bei Mädchen und Jungen gleichermaßen gut ankam. Denn sie stimmten dafür, dass „Fight Girl“ 2019 den Young Audience Award der Europäischen Filmakademie erhielt.
Holger Twele
Vechtmeisje - Niederlande, Belgien 2018, Regie: Johan Timmers, Festivalstart: 05.05.2019, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 84 Min., Buch: Barbara Jurgens, Kamera: Jeroen de Bruin, Schnitt: Philippe Ravoet, Musik: Stijn Cole, Tom Pintens, Produktion: Ineke Kanters, Jan van der Zanden, Besetzung: Aiko Beemsterboer (Bo), Bas Keizer (Dani), Noa Farinum (Joy), Hilde De Baerdemaeker (Esther), Ali Ben Horsting (Alex), Dioni Jurado-Gomez (Jesse), Imanuelle Grives (Cecilia), Dana Goldberg (Emma) u. a.
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