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Rekonstruktion Utøya

Entdeckt bei der Berlinale (Generation): Jugendliche arbeiten ihre Erinnerungen an das Attentat auf der Ferieninsel Utøya auf.

Am 22. Juli 2011 verübte ein ultrarechter neofaschistischer Terrorist auf der Insel Utøya in der Nähe von Oslo ein Blutbad. Binnen 72 Minuten ermordete er kaltblütig 69 Menschen, viele davon Jugendliche, die an einem Sommercamp der Jugendorganisation der linksgerichteten Arbeiterpartei teilnahmen. Das Massaker erschütterte nicht nur das ganze Land, sondern hatte für das Wiedererstarken rechtsextremer Kräfte weit über Europa hinaus eine fatale Signalwirkung. Acht Jahre nach diesem Anschlag haben sich aus eigenem Bedürfnis heraus vier Überlebende des Attentats zusammen mit zwölf weiteren engagierten Jugendlichen in einem leerstehenden nordnorwegischen Filmstudio getroffen. Unter psychologischer Begleitung rekonstruieren sie ihre Erinnerungen – nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen, damit sich eine solche Tragödie nicht wiederholt. Das Setting bleibt dabei so reduziert wie möglich: Nur weiße Klebebänder auf dem Boden der schwarz ausgekleideten Halle markieren Räume und Orte.

Der Dokumentarfilmer Carl Javér begleitete dieses Treffen mit der Kamera. Die Entscheidung, seinen Film bei Generation 14plus zu zeigen, wenn auch außer Konkurrenz, trägt dem politischen Ansinnen Rechnung, das Unfassbare offen auszusprechen, anstatt es zu verdrängen. Mit seiner emotionalen Wucht hätte der Film im Wettbewerb sicher viele andere Beiträge auf die hinteren Plätze verwiesen.

Die Anspannung und Überwindung, über die Umstände zu reden, wie sie überlebt haben, ist Rakel, Mohammed, Jenny und Torje, der als Jüngster zum Zeitpunkt des Anschlags gerade mal 14 Jahre alt war, deutlich anzumerken. Verdrängen konnten sie diese Erlebnisse nicht, sie erscheinen ihnen ohnehin tagtäglich vor dem inneren Auge. Aber indem sie zunächst ihre eigene Geschichte aus ihrer ganz persönlichen Perspektive nacherzählen und eine andere Person ihrer eigenen Wahl dann in ihre Rolle schlüpft und das Erzählte „nachspielt“, ist genauso deutlich zu sehen, wie sehr sie dieses „Rollenspiel“ tatsächlich erleichtert, wie sie in den Pausen und bei den Freizeitaktivitäten dann sogar ungezwungen lachen können.

In zwischengeschnittenen Interviews bringen sie alle zum Ausdruck, wie wichtig ihnen selbst diese Rekonstruktion gewesen ist, dass dieses Unterfangen als eine Form von öffentlicher Gruppentherapie auch viel zu kurz greift. Sie sehen es als Überlebende vielmehr als ihre Aufgabe, andere Menschen an ihren schmerzhaften Erinnerungen teilhaben zu lassen, um vor den Gefahren zu warnen, die von solchen menschenverachtenden Fanatiker*innen droht, klar Position gegen Ultrarechte zu beziehen, auf seine Lieben besser aufzupassen und sich um sie zu kümmern, für Mitmenschlichkeit und eine demokratische Gemeinschaft einzutreten.

Natürlich kann und soll der Film Diskussionen darüber auslösen, ob beziehungsweise auch warum ein solcher Film sinnvoll und wichtig ist. Niemand ist schließlich gezwungen, sich diesen Film anzusehen, der sich ohne ablenkendes oder gar bedrohliches „Beiwerk“ ganz auf die Personen und ihre Gefühle konzentriert und den Rest der Fantasie und dem Einfühlungsvermögen des Betrachters überlässt. Natürlich lassen sich das Attentat und der Holocaust nicht unmittelbar miteinander vergleichen, auch wenn beides seine Wurzeln in der gleichen menschenverachtenden Ideologie hat. Wo ständen wir aber heute in unserer Erinnerungskultur und unserer historischen Verantwortung, wenn die Mauer des Schweigens nicht eines Tages von einer US-Fernsehserie gebrochen worden wäre und seitdem in vielen Filmen das zum Ausdruck kommt, was zuvor angeblich nicht „darstellbar“ war und der Verdrängung zum Opfer fallen sollte? Nicht anders verhält es sich mit Utøya, und nach zwei fiktionalen und dieser dokumentarischen Annäherung wird „Reconstruction Utøya“ vermutlich nicht der letzte Film über dieses norwegische Trauma gewesen sein.

Holger Twele

© Berlinale/ Henrik Bohn Ipsen
16+
Dokumentarfilm

Reconstruction Utøya - Schweden, Norwegen, Dänemark 2018, Regie: Carl Javér, Festivalstart: 13.02.2019, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 98 Min., Buch: Carl Javér, Fredrik Lange, Kamera: Henrik Ipsen, Martin Otterbeck, Trude Ottersen, Schnitt: Carl Javér, Peter Winter, Musik: Kjetil Schiander Luhr, Produktion: Fredrik Lange, Mitwirkende: Rakel, Mohammed, Jenny, Torje (Überlebende) und zwölf weitere Jugendliche

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