Schmeißt die Schlampe in den Fluss
Entdeckt in Chemnitz: Ein kritisches, überaus aktuelles Jugenddrama über soziale Netzwerke, Cybermobbing und Moral.
Einer aktuellen Studie des Sinus-Instituts im Auftrag des Bundesfamilienministeriums zufolge wächst die Skepsis der Jugendlichen gegenüber dem Internet und die Sorge, selbst einmal beleidigt und beschimpft oder Opfer von Cybermobbing zu werden. Zugleich räumen viele der befragten „digital natives“ ein, unzureichend auf die digitale Zukunft vorbereitet zu sein. Unbedachte Handlungen etwa können durch die schnelle Verbreitung im World Wide Web ungeahnte Konsequenzen nach sich ziehen, wie der niederländische Filmemacher Ben Brand in seinem Debütspielfilm mit dem provokativen Titel „Schmeißt die Schlampe in den Fluss“ auf schockierende Weise zeigt. Der Film hat bei der Jugendjury auf dem Schlingel-Festival jedenfalls einen tiefen Eindruck hinterlassen und ihren Preis erhalten.
Die Grundidee zur Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, die sich bereits 2010 ereignete. Damals warf eine 45-jährige Frau ohne klar erkennbare böse Absichten eine kleine Katze, die sie zuvor gestreichelt hatte, einfach in einen Abfallbehälter. Die später gerichtlich geahndete Tat, die von einer privaten Überwachungskamera aufgenommen wurde, war kurze Zeit später im Internet zu sehen und entfachte einen weltweiten Sturm der Entrüstung. Brand und seine Koautorin Ilse Ott betten diesen Vorfall nun in eine Coming-of-Age-Geschichte ein und fragen sich, was passieren würde, wenn der aufgebrachte Mob, der sogar den Tod der Tierquälerin forderte, eine direkte Konfrontation mit der Täterin fände.
Der 15-jährige Remco und seine jüngere Schwester Lizzy wachsen nach dem Tod der Mutter unter beengten Wohnverhältnissen bei ihrem arbeitslosen Vater auf. Dieser handelt über das Internet mit nett herausgeputzten, illegal importierten Hundewelpen, ohne sie in der engen Wohnung artgerecht pflegen zu können. Daher kommt es immer wieder vor, dass einige Tiere erkranken und nicht mehr verkauft werden können. Remco und Lizzy denken sich nicht viel dabei, als sie ein paar dieser kranken Welpen in den Fluss werfen, zumal diese dann wenigstens nicht länger leiden müssen. Remco, der von einer späteren Karriere als YouTube-Star träumt, filmt seine Schwester dabei und stellt das Video später online, um damit in der Clique zu prahlen, in der er immer noch als Außenseiter gilt. Der gar nicht erst gefragten Schwester erklärt er später, sie müsse sich keine Sorgen machen, denn sie sei auf dem Video ohnehin nicht zu erkennen. Als dann ein Shitstorm ungeahnten Ausmaßes einsetzt, ist es zu spät, zumal der Vater um sein einträgliches Geschäft fürchtet und die Polizei aus dem Spiel lassen möchte. Lizzy, von der es bereits andere Videos im Netz gibt, weil sie unbedingt als Sängerin entdeckt werden möchte, wurde auf dem verfänglichen Video identifiziert. Und nun sieht sie sich plötzlich mit einer ganzen Horde aufgebrachter Jugendlicher konfrontiert, die sich alle moralisch im Recht fühlen und sie daher hart bestrafen möchten.
Überwiegend mit Handkamera gedreht, bleibt der Regisseur dicht an seinen beiden Hauptfiguren, die von den gleichen Dingen träumen wie ihre Altersgenoss*innen und mit dem Internet, mit YouTube und den Social Media aufgewachsen sind. Brand hütet sich zum Glück davor, den Social Media die Schuld an der dramatischen Zuspitzung der Ereignisse zu geben und verteufelt sie auch nicht mit pädagogischem Zeigefinger. Stattdessen rückt die soziale Komponente in den Mittelpunkt, die Überforderung des Vaters, seine Arbeitslosigkeit, das raue Klima unter den Jugendlichen, in dem Konkurrenz- und Profilierungsdruck herrschen und Abweichler bestraft werden. Da ist es eigentlich sogar begrüßenswert, dass gegenüber unserem häufig allzu sorglosen Umgang mit Tieren bis hin zur offensichtlichen Tierquälerei inzwischen eine größere Sensibilität gewachsen ist, nicht nur im Internet. Allerdings mahnt der Film mit seinem drastischen, wenn auch keineswegs unglaubwürdigen Beispiel zur Vorsicht, das Verhalten anderer Menschen einfach unhinterfragt zu werten und beurteilen zu können. Im Zeitalter von Doku-Fakes, Scripted Reality und allgemein zugänglichen Mitteln der Bildmanipulation sollte man jeder Form von Bewegtbildern nicht einfach blind vertrauen. Der wichtigste Aspekt liegt allerdings in der erschreckenden moralischen Naivität aller Beteiligten, durch die Fehlverhalten begünstigt wird und die möglichen Konsequenzen des eigenen Handelns nicht einmal ansatzweise bedacht werden. Das führt dann auch zu einer nicht zu legitimierenden Überheblichkeit, die in Selbstjustiz und offene Gewalt mündet.
Holger Twele
Vind die domme trut en gooi haar in de rivier - Niederlande 2017, Regie: Ben Brand, Festivalstart: 07.10.2018, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 87 Min., Buch: Ilse Ott, Ben Brand, Kamera: Paul Özgur, Schnitt: Patrick Schonewille, Musik: Christiaan Verbeek, Produktion: Jeroen BekerSabine Veenendaal, Besetzung: Nino den Brave (Remco), Senna Fokke (Lizzy), Wim Opbrouck (Wim), Steef Cuijpers (Hausmeister), Yassine Kji (Youssef), Mirre Licht (Emma), Laura Branderhorst (Evi) u. a.
Altersempfehlung 14-18 Jahre
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