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Okaydanketschüss

Entdeckt beim „Schlingel“: Zwei gehörlose Jugendliche machen sich alleine auf den Weg nach Paris. Eine aufregende Herausforderung.

Ein Popkonzert in der französischen Provinz, irgendwo auf der Strecke zwischen Brüssel und Paris. Die Band auf der Bühne gibt ihr Bestes, die Verstärker sind auf volle Lautstärke gedreht und das jugendliche Publikum tanzt begeistert mit. Zu hören allerdings ist bei diesem Film im Kinosaal vorübergehend so gut wie nichts. Denn die beiden 13-jährigen Mädchen, aus deren Perspektive das Roadmovie erzählt wird, sind gehörlos oder stark hörbehindert. Trotzdem tanzen sie mit, sind von der Band begeistert. Die Musik nehmen sie durch die Schwingungen und Vibrationen wahr, sie spüren den Ton. Ein normaler Konzertbesuch ist es trotzdem nicht. Denn Jamie und ihre Freundin Imane sind eher unfreiwillig auf dem flachen Land gestrandet, ohne Fahrkarte und ohne Geld und auf die Hilfe von anderen angewiesen. Wie sich aber diesen verständlich machen, wenn die Umwelt die Gebärdensprache nicht versteht? Es geht dennoch besser als erwartet, sogar mit einem selbst verfassten Liedtext, wenn auch mit Hindernissen und mit viel Geduld und gutem Willen. Nur einige Unverbesserliche machen sich über die beiden Mädchen lustig.

Die niederländische Regisseurin Nicole van Kilsdonk konzentriert sich in ihrem neuen Spielfilm ganz auf die Erlebnis- und Erfahrungswelt der beiden Jugendlichen, die in einem belgischen Internat für Gehörlose wohnen. Als die von Heimweh geplagte, schüchterne und in sich gekehrte Jamie erfährt, dass ihre in Paris lebende geliebte Großmutter schwer gestürzt ist und im Krankenhaus liegt, fasst sie spontan den Entschluss, sie zu besuchen. Ihre dagegen für jedes Abenteuer aufgeschlossene neue Klassenkameradin Imane, die schon immer mal den Eiffelturm sehen wollte, erklärt sich sofort einverstanden, mit ihr die Schule ohne Wissen der Heimleitung zu schwänzen und mitzukommen. Viel Geld haben sie nicht, aber es reicht gerade für die Fahrkarten. Nachdem Jamie das Gepäck mitsamt der Tickets im Zug abhanden kommt, ist guter Rat teuer. Das führt zu ersten Auseinandersetzungen zwischen den Freundinnen, die bald noch an Heftigkeit zunehmen. Aber klein beigeben wollen sie nicht und so entschließen sie sich, nach Paris zu trampen. Als Imane nach einer Übernachtung in einem scheinbar unbewohnten Haus auch noch ihr Hörgerät verliert, freut sich Jamie, dass beide fortan auf gleicher Stufe stehen, Imane wie sie also nichts mehr hören kann. Diese unerwartete neue Ausgangssituation stellt beide vor extreme Herausforderungen, wobei sie wunderbare, aber auch schlechte Erfahrungen mit ihren Mitmenschen machen. Vor allem jedoch wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt.

Inszenatorisch setzt die Regisseurin ganz auf ihre beiden Hauptdarstellerinnen, die sich gerade in ihrer Gegensätzlichkeit gut ergänzen und ihre Rollen mit großer Natürlichkeit und Authentizität spielen. Dramaturgisch setzt der Film immer neue Spannungsbögen mit überraschenden Wendungen, wobei die Unterschiede zwischen dem pulsierenden Stadtleben von Brüssel beziehungsweise Paris und dem Landleben in der französischen Provinz geschickt ausgespielt werden und dem Ganzen eine besondere Note hinzufügen. Zugute kommt dem Film schließlich auch die Entscheidung, sich voll und ganz auf die Erfahrungswelt der beiden Protagonistinnen einzulassen.

Die Gehörlosigkeit oder Hörbeeinträchtigung wird von diesen sehr unterschiedlich wahrgenommen. Jamie kann gar nichts mehr hören und ist daher neidisch auf Imane, der mit Cochlea-Implantat zumindest ein Resthörvermögen geblieben ist. Unabhängig davon sind beide im Internat für Gehörlose von der Außenwelt weitgehend abgeschieden, was insbesondere der sensiblen Jamie bewusst ist. Die gemeinsame Reise nach Paris ist für beide daher weit mehr als ein Abenteuer von „Ausreißerinnen“, sondern angesichts der auftretenden Probleme eine echte Herausforderung. Gerade diese differenzierte Sichtweise jenseits gängiger Klischeevorstellungen macht den Film so besonders. Denn er weckt nicht nur Neugier und schafft Verständnis, er ist auch ein wunderbares und sehenswertes Beispiel dafür, dass jeder Mensch einzigartig ist und die Umwelt immer auf besondere subjektive Weise wahrnimmt.

Holger Twele

Diese Kritik entstand anlässlich der Aufführung des Films beim „Schlingel“ 2023.

© Labyrinth Film
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Spielfilm

Okedoeibedank - Niederlande 2023, Regie: Nicole van Kilsdonk, Festivalstart: 25.09.2023, FSK: keine FSK-Prüfung, Laufzeit: 92 Min. Buch: Lilian Sijbesma, Nicole van Kilsdonk. Kamera: Jeroen Kiers. Musik: Wilko Sterke. Schnitt: Michiel Boesveldt. Produktion: Labyrinth Film. Verleih: offen. Darsteller*innen: Mae van de Loo (Jamie), Douae Zine El Abidine Arjan Bouwmeester (Jamies Vater), Bente Jonker (Jamies Mutter), Petra Karlas (Jamies Oma) u. a.

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