Coco Farm
Entdeckt beim „Schlingel“: Ein findiger junger Unternehmer setzt sich Umwelt- und Tierschutz ein – und stößt auf Widerstände.
Wenn ein zwölfjähriger Junge aus der kanadischen Stadt Montréal nicht nur davon träumt, möglichst schnell Unternehmer zu werden, sondern bereits aktive Schritte in diese Richtung eingeschlagen hat, mag das auf den ersten Blick gemischte Gefühle erzeugen. Sollte Max nicht lieber noch seine Kindheit genießen, sich vielleicht besser in der Umweltschutzbewegung engagieren und später dann einen Beruf ergreifen, der ihm Spaß macht und zugleich nützlich für die Gesellschaft ist? Aber „Unternehmer“, das klingt ein wenig anrüchig nach Neokapitalismus, Ausbeutung und Geldgier, um hier nur die gängigsten Klischees zu bemühen. Daneben gab es allerdings schon immer auch eine andere Vorstellung von unternehmerischen Fähigkeiten, die mit Inspiration, Mut und Wagnis, sozialer Verantwortung, Innovationswillen und großer Überzeugungskraft verbunden ist. Und mit diesen Fähigkeiten ist Max offenbar reichlich gesegnet.
Max zieht mit seinem Vater aus der geliebten Stadt höchst unfreiwillig aufs Land zu Onkel und Tante, nachdem der Vater arbeitslos und die Stadtwohnung viel zu teuer geworden ist. Beim Frühstück entdeckt er verwundert, dass die Eier vom Bauernhof viel besser schmecken als die aus dem Supermarkt. Von solchen Bio-Eiern sollten seiner Meinung nach auch andere Menschen profitieren. Spontan kommt ihm die Idee, ein paar hundert Hühner zu kaufen, eine kleine Hühnerfarm zu bauen und die Eier dann gewinnbringend an die Endkonsument*innen im Umland zu verkaufen, später vielleicht sogar in der Stadt. Schnell kann Max seinen bisher wenig motivierten Cousin Charles überzeugen, von dem sein Vater meint, wenn er sich nicht besonders anstrenge und einen klassischen Broterwerbs-Beruf ergreife, werde er auf dem engen Arbeitsmarkt keine Chancen haben. Auch die gleichaltrige You-Tuberin Alice kann Max schnell mit ins Boot holen. Weitaus schwieriger ist es allerdings, den erforderlichen Kredit für den Ankauf der Hühner zu erhalten, da viele Erwachsene dem Unternehmen keinen Erfolg einräumen. Die mächtige Lobby der Massentierhaltung würde ohnehin keine noch so kleine Konkurrenz dulden. Zum Glück gibt es unter den vielen Arbeitslosen und sozial Schwachen im Ort dennoch ein paar Menschen, die Max unterstützen, darunter den ehemaligen Bauern Raymond, der Grund und Boden verloren hat und seinen Kummer in Alkohol ertränkt. Als die Eierproduktion unter großen Schwierigkeiten endlich anläuft und sich die ersten Eier dank der Werbung von Alice in den sozialen Kanälen gut verkaufen lassen, ruft das eine Mitarbeiterin des staatlichen Gesundheitsamts auf den Plan. Sie möchte den Kleinbetrieb wegen gesetzlicher Verstöße umgehend stilllegen. Allem Anschein nach ist dieses Hindernis nun wirklich eine Nummer zu groß für Max, zumal er zuvor schon vom Vater und dem Onkel ausgebremst wurde.
Sébastien Gagné ist einer der Pioniere der digitalen Szene in der französischsprachigen Provinz Quebec in Kanada. Er hat in den letzten zehn Jahren schon zahlreiche Fernsehserien und Musikvideos gedreht und sein Talent für anspruchsvolle Unterhaltung bewiesen. „Coco Farm“ ist dennoch sein erster Langspielfilm. Er folgt mit der „Reise eines Helden“ (Campbell), der gegen viele Widerstände antreten muss, aber auf die Unterstützung mehrerer Gefährt*innen zählen kann und am Ende den verdienten Erfolg genießt, einer eher klassischen Dramaturgie. Diese ist handwerklich versiert und äußerst unterhaltsam in Szene gesetzt. Am Drehbuch war Gagné zwar nicht unmittelbar beteiligt, aber da er selbst auf einer kleinen Farm zehn Hühner hält, war ihm das Sujet bereits vertraut. So ganz nebenbei und doch substanziell erzählt der Film von drei verschieden gestalteten Vater-Sohn-Konflikten. Auch die zentrale Botschaft ist nicht neu, den Mut selbst in ausweglos scheinenden Situationen nie zu verlieren, verbunden mit dem eisernen Willen, nicht aufzugeben und das selbst gesteckte Ziel vielleicht doch noch auf Umwegen zu erreichen.
Was den Film aber besonders auszeichnet, ist die erfrischend unkonventionelle und unaufdringlich lehrreiche Geschichte, in der so aktuelle Themen wie Umwelt- und Klimaschutz, biologische Landwirtschaft, Abkehr von der Massentierhaltung und Engagement für das Gemeinwohl mit viel Humor und Fantasie auf stimmige Weise miteinander verbunden und als nicht nur machbare, sondern auch sinnvolle und notwendige Alternative zur ungebremsten Geldgier und zu maximalem Profit um jeden Preis dargestellt werden. Ein Film also, dem man eine bald mögliche Verfügbarkeit in der deutschen Kino- und Medienlandschaft nur wünschen kann. Der Sonderpreis des Mitteldeutschen Rundfunks beim Schlingel-Festival 2023 in Chemnitz ist sicher ein erster Schritt in diese Richtung.
Holger Twele
Diese Kritik entstand anlässlich der Aufführung von „Coco Farm“ beim „Schlingel“ 2023.
Coco Farm - Kanada 2023, Regie: Sébastien Gagné, Festivalstart: 25.09.2023, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 89 Min. Buch: Dominic James, Jacques A. Desjardins. Kamera: Simon Villeneuve. Musik: Philippe Brault. Schnitt: François Larochelle. Produktion: Les Productions La Fête, Attraction. Verleih: offen. Darsteller*innen: Oscar Desgagnés (Max), Simon Lacroix (Èric, der Vater von Max), Joëlle Paré-Beaulieu (Jacynthe, die Tante von Max), Joey Bélanger (Cousin Charles), Emma Bao Linh Tourné (Alice), Mia Garnier (Lou) u. a.
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