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Boyz

Entdeckt beim Kinderfilmfest München: Die Beobachtung dreier Freunde, die tradierte Bilder von Männlichkeit in Frage stellt.

Bei Filmen, die das Lebensgefühl von Jugendlichen angeblich authentisch widerspiegeln wollen, sollte man immer vorsichtig sein. Spielfilme insbesondere aus den USA neigen zu Übertreibungen und extremen Zuspitzungen. Und Dokumentarfilme, etwa aus Deutschland, erwecken leicht den Eindruck der Scripted Reality: So ganz glauben mag man vieles nicht, die Erfahrungen aus dem eigenen Lebensumfeld sprechen meistens dagegen und ein Vergleich mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden zur eigenen Jugendzeit gelingt auch nur selten. Insofern bietet die Abschlussarbeit des französisch-deutschen Regisseurs Sylvain Cruiziat an der Münchner Filmhochschule über drei junge Männer Anfang Zwanzig etwas wirklich Außergewöhnliches. Das Verhalten der Jugendlichen in ihrem Freizeitverhalten wirkt in der Tat authentisch. Sie geben über ihre Unsicherheiten, Sorgen und Wünsche sehr ehrlich und offen Auskunft und ermöglichen beim Publikum zahlreiche Assoziationen, Anknüpfungspunkte und Vergleiche. Trotz seines Titels, der durch das Z in Boyz eine Brücke zur Generation Z schlagen möchte, suggeriert der Film nie den Anspruch, Allgemeingültiges über eine ganze Generation aussagen zu wollen. Dafür sind die Charaktere ohnehin zu unterschiedlich. Aber klar ist, es geht hier vorwiegend um junge Männer, so präsent die Frauen im Film auch sein mögen. Vor allem präsentiert der Film keine tradierten Bilder einer Männlichkeit, bei der kaum Gefühle zugelassen sind und man noch weniger darüber redet.

Cruiziat porträtiert, interviewt und beobachtet insbesondere seinen jüngeren Bruder Maxime sowie dessen Freunde Julian und Vilas über einen Zeitraum von drei Monaten hinweg. Das geschieht in einer Zeit des Umbruchs, denn Maxime wird am Ende die Clique verlassen, um ein Auslandssemester einzulegen. Die drei Freunde sind gemeinsam in London aufgewachsen und haben seit der Grundschule eine deutsche Schule besucht. Das erklärt am besten, warum in großen Teilen des Films Englisch gesprochen wird. Nach dem Abitur haben die drei Freunde ein Studium in München begonnen, wobei Maxime sich zwar mehr als die anderen offen um seine Zukunft bemüht, aber bei seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften und des Ingenieurwesens immer noch das Gefühl hat, alles nur „hinter sich bringen“ zu müssen.

Die enge Vertrautheit unter den Freunden, die sich beispielsweise auch konkret in ungezwungener körperlicher Nähe und in vielen Umarmungen zeigt, sowie die brüderliche Verbundenheit von Maxime mit dem Regisseur haben sicher entscheidend dazu beigetragen, dass sich die drei Jugendlichen und deren jeweilige Freundinnen so ungezwungen und natürlich vor der Kamera bewegen. Sie schrecken nicht davor zurück, ihre Unsicherheiten und selbst intimste Äußerungen über die Liebe, über Sex und Beziehungen zum anderen Geschlecht zur Sprache zu bringen.

Hier sticht Maxime erneut besonders hervor, der interessanterweise am meisten von den Frauen umschwärmt wird. Er hat mit 20 Jahren noch keinen Sex gehabt und lehnt deutliche und eigentlich nett gemeinte Angebote ab, die ihn in Bezug auf seine Männlichkeit lediglich unter Druck setzen und nicht das sind, was er sich unter einer echten Beziehung mit einer Frau vorstellt. Offen reden die drei Freunde über die Größe ihres Penisses, werden von einer Frau auf einer der zahlreichen Partys ungezwungen darüber informiert, dass es Fleischpenisse ohne und Blutpenisse mit großem Wachstumspotenzial gebe. Zugleich fühlen sie sich angegriffen und verletzt, wenn dann doch einmal jemand im Scherz eine dumme Bemerkung fallen lässt. Am wenigsten erfährt man von Vilas im Film, der die Probleme am liebsten mit sich alleine ausmacht, aber wie die anderen genauso unsicher ist, was es bedeutet, jung und männlich zu sein. Anhand von Julien wird gezeigt, dass das Bild einer männlichen Jugend, die ständig Partys feiert und an Computerspielen hängt, allenfalls einen kleinen Teil der Realität ausmacht. Er besucht seine im Sterben liegende Großmutter und setzt sich nach deren Tod auch mit seiner Familie und seiner Kindheit auseinander.

Insgesamt sind mehr als 130 Stunden Filmmaterial von den drei Freunden entstanden, die im Film auf knappe 72 Minuten komprimiert werden. Alle Szenen wurden in Festbrennweite mit einer ruhigen Handkamera gefilmt, was die Nähe zu den Figuren unterstreicht, aber niemals in billige Effekte abgleitet oder etwa suggeriert, eine wackelige Kamera allein wäre schon ein Garant für Authentizität. Äußerst gelungen ist auch die Cadrage der Bilder, wobei eine nächtliche Szene, in der sich Maxime nach zu viel Alkoholkonsum auf der Straße übergeben muss, sogar noch einen lichtbildnerischen und ästhetischen Reiz entfaltet. Voyeuristisch sind die Aufnahmen jedenfalls nicht. Das wird besonders deutlich, als Julien die sterbende Oma besucht und die Kamera nicht einfach draufhält, sondern dezent nach unten geht und schnell nur noch Julien im Bild zu sehen ist. Besonders hinzuweisen ist noch auf die Musik im Film, die die Gefühlslagen der Jugendlichen unterstreicht. Es ist diegetische Musik sehr unterschiedlicher Geschmacksrichtung, die in den betreffenden Szenen von ihnen auch tatsächlich gehört wird, etwa im Radio, in der Disco oder aus dem Kopfhörer. Einen solchen Film wird man so schnell wohl nicht wieder finden.

Holger Twele

Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung von „Boyz“ im Rahmen des Kinderfilmfest München 2023 veröffentlicht.

 

© Nikolai Huber, madfilms
14+
Dokumentarfilm

Boyz - Deutschland 2023, Regie: Sylvain Cruiziat, Festivalstart: 27.06.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 72 Min. Buch: Sylvain Cruiziat. Kamera: Nikolai Huber. Schnitt: Felicitas Sonvilla. Produktion: madfilms Cruiziar & Egert, HFF München. Verleih: offen. Mitwirkende: Maxime, Vilas, Julian u. a.