Mellow Mud
Zwei Jahre nach dem Festivalerfolg und nach einer VOD-Auswertung endlich im Kino: Ein beeindruckender Film über das Erwachsenwerden aus Lettland.
Während der lettische Originaltitel – übersetzt mit „Ich bin hier“ – deutlich macht, dass hier ein junger Mensch seinen eigenen Platz im Leben einfordert, lässt sich der englische Titel eher metaphorisch bezogen auf die Filmsprache deuten. Sanfter, umgänglicher Dreck oder Schlamm bedeutet eben, dass jemand im Schlamm zu versinken droht und das Beste daraus macht. So geht es der 17-jährigen Raya in dem bereits vielfach ausgezeichneten Coming-of-Age-Film von Renārs Vimba, der 2016 den Gläsernen Bären für den besten Film in der 14plus-Reihe der Berlinale-Sektion Generation erhielt.
Raya und ihr jüngerer Bruder Robis werden vorübergehend bei ihrer alten Großmutter in der lettischen Provinz untergebracht, nachdem sich sonst niemand um die beiden kümmern kann. Vom Vater ist nicht viel bekannt und die Mutter ist bereits vor einiger Zeit nach London gezogen, um dort mehr Geld zu verdienen. Die beiden Geschwister glauben daran, dass ihre Mutter sie später einmal nachholen wird, auch wenn Lebenszeichen von ihr ausgeblieben sind. Als die Großmutter unerwartet stirbt, fassen die Kinder einen folgenschweren Entschluss. Sie verschweigen ihren Tod gegenüber den Behörden, um ihre kleine Rente weiterhin beziehen zu können und nicht selbst in ein Heim abgeschoben zu werden. Mit viel Geschick organisiert Raya fortan das tägliche Leben, wobei ihr kleiner Bruder nicht immer versteht, warum er in allen Dingen zurückstecken muss. Unterdessen nimmt die sprachlich sehr begabte Raya an einem Englisch-Wettbewerb an der Schule teil, bei dem als Hauptpreis eine Reise nach London winkt. Auf diese Weise könnte sie vielleicht vor Ort nach ihrer Mutter suchen. Ein junger Lehrer, der erst neu an die Schule gekommen ist, entdeckt ihr Talent und fördert sie so gut es geht. Zugleich geht er aber eine heimliche Liebesbeziehung mit ihr ein, die ihr einerseits ein Gefühl von Anerkennung und Bestätigung gibt, die aber nicht publik werden darf und ohne Zukunft ist. Als Robis hinter das Geheimnis der beiden Liebenden kommt, fühlt er sich noch mehr zurückgesetzt. Und auch die Behörden beginnen, Verdacht zu schöpfen.
Den komplizierten Reifungsprozess einer Jugendlichen und ihren hartnäckigen Kampf für ein Stück Heimat und ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Geborgenheit fasst der Film in atmosphärisch dichte Bilder ohne viele Worte. Immer wieder spielen Szenen inmitten einer abgeschiedenen Seenlandschaft, in der es häufig regnet und in der die von Schlamm und Wasserlachen bedeckten Wege ein schnelles und sicheres Fortkommen so gut wie unmöglich machen. Eine Metapher für die Situation, in der sich Raya gerade befindet. Den Liebenden bietet diese schwer zugängliche Landschaft, die nur von einigen Jägern und Fischern aufgesucht wird, zwar ein gutes Versteck für ihre Treffen, aber so richtig behaglich ist das nicht. Gleichwohl gelingt es der Kamera, diesen Landschaftsbildern, in denen Rayas ambivalente und doch stets von Grund auf optimistische Gefühlslage zum Ausdruck kommt, einen ganz eigentümlichen positiven Reiz abzugewinnen.
Ein eher ruhig erzählter Film mit einer ungewöhnlichen Personen- und Handlungskonstellation, die man in mittel- und westeuropäischen aktuellen Filmen über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens vergeblich suchen wird. Und obwohl die Protagonistin noch eine Reihe weiterer bitterer Erfahrungen machen wird, beeindruckt ihr unerschütterlicher Glaube an eine glückliche Zukunft. Dafür kämpft sie unermüdlich, selbst wenn es dann ohne fremde Hilfe auch nicht geht. Das macht auch dem Publikum Mut und Hoffnung, dass sich selbst aussichtslos erscheinende Situationen lösen lassen. Nachdem dieser kleine, feine Film seinen Siegeszug durch Festivals in der ganzen Welt angetreten hat, entschloss sich der deutsche Verleih, ihm zwei Jahre nach seiner Entstehung doch noch eine Chance im Kino zu geben. Diese Chance sollte man sich nicht entgehen lassen.
Holger Twele
Mellow Mud - Lettland 2016, Regie: Renārs Vimba, Kinostart: 13.12.2018, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 105 Min., Buch: Renārs Vimba, Kamera: Arnar Thorisson, Schnitt: Georgios Mavropsaridis, Musik: Ēriks Ešenvalds, Produktion: Aija Berzina, Alise Gelze, Verleih: Sabcat Media, Besetzung: Elīna Vaska (Raja), Andžejs Jānis Lilientāls (Robis), Edgars Samītis (Oskars), Zane Jančevska (Daina), Ruta Birgere (Großmutter), Rēzija Kalniņa Mutter) u. a.
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