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20.000 Arten von Bienen

Ein achtjähriges Kind auf der Suche nach einem Namen und einer Identität, mit der es sich wirklich wohlfühlt.

Um gleich ohne Umschweife darauf hinzuweisen: Bei diesem Film über die Identitätssuche eines achtjährigen Trans-Mädchens handelt es sich nicht um einen „Kinderfilm“ im klassischen Sinn. Das Spielfilmdebüt der jungen baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren lief 2023 im Wettbewerb der Berlinale und war zugleich als Cross-Section-Film von Generation Kplus angekündigt. Es greift ein Diversitäts- und Gender-Thema auf, das zurzeit unter jungen Menschen besonders virulent erscheint, und berücksichtigt gleichermaßen die Perspektive des Kindes Cocó und der Gleichaltrigen wie auch die des familiären und sozialen Umfelds, das untrennbar mit den Problemen des Kindes verbunden ist.

Überraschend erhielt die erst neunjährige Sofía Otero dann sogar den Silbernen Bären als Beste Hauptdarstellerin, was in der Geschichte der Berlinale einmalig ist. Nun kann man über diese Preisentscheidung trefflich streiten, zumal es auch erwachsene Hauptdarstellerinnen im Wettbewerb gab, die einen solchen Preis verdient hätten. Ungerechtfertigt ist er allerdings nicht, denn Sofía Otero spielt ihre schwierige Rolle wirklich großartig. Und die Regisseurin hat eine kluge Wahl getroffen, indem sie diese Rolle nicht etwa mit einem Tomboy besetzte, sondern mit einem von Anfang an äußerlich als Mädchen erkennbaren Kind.

Cocó, wie sie zu Beginn des Films genannt werden möchte, erhielt von den Eltern als jüngstes von drei Geschwistern zwar den männlichen Namen Aitor, verweigert sich jedoch diesem Namen und trägt wie ein Mädchen lange Haare. Das führt mitunter zu Streitereien, wird aber von der Familie und insbesondere der Mutter letztlich akzeptiert und als bloße Umbruchphase abgetan. Wären nur nicht die anderen, die sich daran stören, eine eindeutige Geschlechtszuordnung für Cocó fordern und diesbezüglich ein Machtwort der Eltern erwarten.

Die Handlung des Films beruht auf der Grundannahme, dass auch die sexuelle Identität nicht nur eine rein persönliche Sache ist, sondern stark von äußeren Umständen beeinflusst wird. Mit einer kleinen Ortsveränderung beginnt die Situation in der Familie zu eskalieren. Sie ist zu einer Taufe auf der anderen Seite der spanisch-französischen Grenze eingeladen, ebenfalls im Baskenland und dort, wo Ane aufgewachsen ist, die Mutter der drei Kinder, und wo die Großmutter und die Großtante Lourdes nach wie vor leben. Anes Mann will vielleicht nachkommen, aber das ist noch unsicher, denn offenbar gibt es zwischen den Eheleuten große Spannungen. Der äußerlich unscheinbare Grenzübertritt erhält eine symbolische Bedeutung. Ane möchte in der alten Heimat wieder zu sich kommen und als Künstlerin mit Skulpturen aus Bienenwachs wie ihr verstorbener Vater Karriere machen. Damit brechen streng gehütete Geheimnisse und Konflikte mit ihrer traditionsbewussten Mutter auf, zumal diese wenig Verständnis für Cocó aufbringt und sich daran stört, dass ihre Enkelin im Dorf als Mädchen wahrgenommen wird. Die Hauptleidtragende ist Cocó selbst, die zwar immer genau weiß, was sie sein möchte, aber das offenbar nicht sein darf. In der Mädchenumkleide eines Schwimmbads entrüstet sich ein gleichaltriges Mädchen über sie, es sind also nicht nur die Erwachsenen, die sich an ihr stören. Aber es gibt auch ein anderes Mädchen, mit dem sie an einem Wasserfall gemeinsam ihren Körper entdeckt. Für diese neue Freundin ist es vollkommen normal, dass Cocó einen „Mädchenschniedel“ hat, wie das im deutschen Untertitel genannt wird.

Bei den Erwachsenen findet Cocó zunächst nur Verständnis bei ihrer Großtante Lourdes, einer androgyn wirkenden Frau, die nie verheiratet war, eine passionierte Bienenzüchterin ist und zum Vorbild für Cocó wird. Immer wieder zieht es sie zu ihrer Großtante, die sie mit zahlreichen Geheimnissen der Bienenzucht vertraut macht, die zugleich zur Metapher für die menschliche Gemeinschaft wird. Denn jede Biene ist individuell und hat eine spezielle Aufgabe, aber nur wenn alle zusammenwirken, können Bienenwachs und Honig geerntet werden. Bei den Tauffeierlichkeiten verschwindet Cocó plötzlich, besorgt machen sich alle auf die Suche nach ihr. Alle rufen nach „Aitor“, nur ihr älterer Bruder, dem sie sich bereits anvertraut hat, ruft plötzlich „Lucía“.

Ein anrührender und ergreifender Film, vor allem dank der überzeugenden Präsenz seiner jungen Hauptdarstellerin. Wenn so junge Menschen für ihre darstellerische Leistung ausgezeichnet werden, heißt es häufig, sie würden letztlich doch nur sich selbst spielen. In diesem Fall trifft das wohl nicht ganz zu. Sofía Otero wurde aus etwa 500 Mädchen für diese Rolle ausgewählt. Den eigentlichen Dreharbeiten gingen monatelange Proben mit ihr, den anderen Kindern und den Erwachsenen voraus, um einen möglichst naturalistischen Look zu erzeugen und die Laiendarsteller*innen mit den Profis auf eine Stufe zu bringen, die das klar ausgearbeitete Drehbuch fachgerecht umsetzen konnten. Mit anderen Worten, es war eher harte Arbeit als spontanes Naturtalent, die hier mit einem Preis belohnt wurde. Ebenfalls gelungen ist die dramaturgische und visuelle Umsetzung der Thematik. Auch wenn Cocó nicht in jeder Szene selbst zu sehen ist, verliert der Film nie aus den Augen, dass alle Konflikte und Ereignisse in ihrem unmittelbaren Umfeld einen konkreten Einfluss auf ihr Leben und ihre Gefühlswelt haben. Zahlreiche Großaufnahmen der Hauptfiguren wechseln mit Halbtotalen und Totalen ab, um sowohl ihre Gefühle als auch die Reaktionen und Verhaltensweisen der Umwelt zeigen zu können. Sehr sparsam geht der Film schließlich mit dem Einsatz von Musik um. Das erinnert entfernt an die skandinavischen „Dogma“-Filme, die ebenfalls auf natürliche Beleuchtung und diegetische Musik setzten. Nicht zuletzt erzählt der Film viel über die baskische Kultur, auch mittels der in der Originalfassung neben dem Spanischen häufig gesprochenen baskischen Sprache, die keine Genderisierung in ihrer Grammatik kennt.

20.000 Arten von Bienen“ ist ein Film, der die künstlichen und eng gesteckten Grenzen des Gender-Systems sprengt, für mehr Diversität und Offenheit eintritt und zeigt, dass sich das Erwachsenwerden und die Herausbildung von (sexueller) Identität niemals auf ein Kochbuchrezept reduzieren lassen.

Holger Twele

Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung des Films im Wettbewerb der Berlinale 2023 veröffentlicht.

© DCM, Gariza Films, Inicia Films
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Spielfilm

20.000 especies de abejas - Spanien 2023, Regie: Estibaliz Urresola Solaguren, Festivalstart: 18.02.2023, Kinostart: 29.06.2023, FSK: ab , Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 129 Min. Buch: Estibaliz Urresola Solaguren. Kamera: Gina Ferrer García. Schnitt: Raúl Barreras. Produktion: Gariza Films, Inicia Films, in Koproduktion mit Sirimiri Films. Verleih: DCM. Darsteller*innen: Sofía Otero (Cocó), Patricia López Arnaiz (Ane), Ane Gabarain (Lourdes), Itziar Lazkano (Lita), Martxelo Rubio (Gorka), Sara Cózar (Leire), Unax Hayden (Eneko) u. a.

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