Kalle Kosmonaut
Im Kino: Langzeitdokumentation über einen Jugendlichen, der abrutscht – und sich wieder aufrappelt.
„Ich hab’ Angst, wie es mit mir weitergeht, was jetzt passiert“, sagt der 16-jährige Pascal zu Beginn dieses mitreißenden Dokumentarfilms und schildert die von ihm begangene Gewalttat. „Ich weiß nicht, wie es angefangen hat, die ganze Geschichte mit mir“, spricht er ratlos in die Kamera. Die Regisseur*innen Tine Kugler und Günther Kurth gehen dieser Frage nach. Ganze zehn Jahre lang haben sie ihren jungen Protagonisten aus dem Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf begleitet.
Pascal, von allen Kalle genannt, ist aufgewachsen in der Nähe der Allee der Kosmonauten, der Hauptverkehrsstraße in diesem Bezirk. Und so hat das Regieduo seine filmische Langzeitbeobachtung „Kalle Kosmonaut“ genannt. Ein Kosmonaut ist Kalle nicht geworden, aber viele Höhen und Tiefen hat er bereits durchlebt. Kennengelernt haben die beiden Filmleute ihn bei einem Projekt über sogenannte Schlüsselkinder. Damals war Pascal zehn Jahre alt. Aufgewachsen ist er bei seiner alleinerziehenden Mutter, die ihn zwar liebevoll umsorgte, ihn aber aus beruflichen Gründen oft zur alkoholkranken Oma gebracht hat. Pascal ist in dem Alter ein aufgeschlossenes, neugieriges Kind, das gern Fußball spielt und über sich und die Welt nachdenkt. Als 13-Jähriger äußert er, dass er nicht wie die Jugendlichen am Berliner Alexanderplatz werden will, die betteln, sondern dass er Arbeit haben und „kein übelster Ghetto“ werden will. Doch später sind es Drogen, Alkohol und erste Gewalttätigkeiten, die ihn von seinem Ziel ab- und letztendlich ins Gefängnis bringen. Mit 17 wird Pascal zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.
Tine Kugler und Günther Kurth halten weiterhin Kontakt zu ihm und seinem nächsten Umfeld, zu Kalles Mutter und deren Freund, den Großeltern, den zuständigen Polizist*innen aus dem Revier. Sie begleiten Pascal bei seinem ersten Ausgang, sind an seiner Seite, als er entlassen wird, Arbeit und Wohnung sucht, in eine Depression zu rutschen droht. Mit 20 hat Pascal Freundin und Kind, arbeitet bei einer Baumschneidefirma und möchte Rapper werden. Vor allem aber möchte er vieles besser machen als das, was in seiner eigenen Kindheit schiefgelaufen ist.
„Kalle Kosmonaut“ ist ein Film, der einen nicht loslässt. Pascal ist durch seine offene, reflektierte Art ein Sympathieträger, allerdings einer, der viel Widersprüchliches, auch Gewalttätiges in sich vereint. Er scheint durch das enge Verhältnis zu Tine Kugler und Günther Kurth keine Hemmungen zu haben, sich offen und ehrlich vor der Kamera zu äußern. Geht es um seine Gefühle, geheimen Gedanken und Grübeleien, seine Ängste und Wünsche, werden sie durch Animationen dargestellt. Umgesetzt wurden diese von Illustrator, Grafik-Designer und Animator Alireza Darvish, der Pascals Empfindungen in berührenden Bildern nachspürt. Alles in allem ist „Kalle Kosmonaut“ ein ganz besonderes Dokument und ein Projekt, von dem man sich nur wünschen kann, dass es weitergeführt wird.
Barbara Felsmann
Kalle Kosmonaut - Deutschland 2022, Regie: Tine Kugler, Günther Kurth, Kinostart: 26.01.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 99 Min. Buch: Tine Kugler, Günther Kurth. Kamera: Günther Kurth. Musik: Philip Bradatsch. Schnitt: Tine Kugler, Günther Kurth. Produktion: KMOTO Film. Verleih: Mindjazz. Mitwirkende: Pascal u. a.
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