Pia Piano
Entdeckt in Hof: Ein vollkommen unprätentiöser Coming-of-Age-Film der leisen Töne, angesiedelt in der brandenburgischen Provinz.
Es gibt ihn doch noch: Den mit wenig Aufwand produzierten Film aus dem ländlichen Milieu mit einer einfachen und unkonventionellen Geschichte, mit nur wenigen einprägsamen Hauptfiguren. Den Film, der mehr von kleinen Alltagsbeobachtungen und kleinen großen Gefühlen geprägt ist als von dramatischen oder gar überdramatisierten Handlungssträngen, der skurrile Nebenfiguren aufweist und trotz der eher beiläufig geschilderten Alltagsprobleme einiger Dorfbewohner*innen leichtfüßig inszeniert ist, wahrhaftig wirkt. Den Film auch, der ohne wesentliche finanzielle Unterstützung und völlig ohne TV-Beteiligung gedreht wurde und mit einer Gesamtproduktionszeit von drei Jahren (2019-2022) zumindest erahnen lässt, dass es nicht einfach war, ihn zu realisieren. Bereits 2016 hat Joya Thome mit ihrem ersten programmfüllenden Spielfilm „Die Königin von Niendorf“ gezeigt, dass solche Filme dennoch erfolgreich sein können, auch international. Die Gemeinsamkeiten zwischen ihrem und diesem Film müssen deswegen nicht überstrapaziert werden. Aber auch der neue Film von Sylke Enders, die 2003 mit „Kroko“ ihr Debüt gab, ist in der ostdeutschen Provinz angesiedelt, spielt im ländlich geprägten Brandenburg und in einem kleinen Dorf. Und die zwölfjährige Diana in der Hauptrolle ist zwar zwei Jahre älter als die Lea aus Thomes Film, aber ebenfalls eine Außenseiterin und für ihr Alter zumindest in Teilen reifer als der Durchschnitt, obwohl sie zugleich noch viel Kindliches an sich hat.
Diana fühlt sich besonders in den Sommerferien allein. Von der depressiven tablettenabhängigen Mutter kann sie nicht viel erwarten und ihre jüngere Schwester Ivy nervt einfach nur und spielt sie gegen die Mutter aus. Eines frühen Morgens macht Diana auf einem Waldspaziergang eine seltsame Entdeckung. Eine junge Frau, die 23-jährige Pia, liegt regungslos im Moos, ihre Beine sind zerkratzt. Im Film war gleich zu Beginn zu sehen, dass sie in der Nacht zuvor eine wilde Party besucht hatte, auf der wer weiß was passiert sein könnte. Doch zum Glück befinden wir uns hier nicht in einem der unzähligen TV-Krimis, in denen Kapitalverbrechen am laufenden Band zu klären sind.
Als Pia noch ganz benebelt die Augen aufschlägt, kümmert sich Diana liebevoll um sie – und stellt keine lästigen Fragen, die Pia ohnehin nicht beantwortet hätte. Trotz des deutlichen Altersunterschieds lässt sich Pia voll und ganz auf ihre Retterin ein, während Diana das Gefühl genießt, endlich mal gebraucht zu werden und jemanden zu haben, der Zeit für sie hat, sie beachtet und sich bis zu einem gewissen Grad sogar von ihr vereinnahmen lässt. Für Pia ist es eher eine Art Auszeit auf einer langen Reise, weg von ihrer wenig erfreulichen Vergangenheit und mit dem unerwarteten Gefühl, wenigstens vorübergehend ein Zuhause zu haben, so befremdlich diese Symbiose mit Diana auch für sie selbst ist.
Gemeinsam durchstreifen die beiden ohne festen Plan den Ort und die umliegende Landschaft, sind offen für alle Eindrücke und Begegnungen mit Einheimischen und Fremden gleichermaßen. Diese lassen sich ihrerseits von der unvoreingenommenen offenen Herzlichkeit der beiden anstecken. Die scheinbare Idylle auf dem Land freilich ist trügerisch, auch wenn es dem Film nicht darauf ankommt, dies zu beweisen, sondern über die wachen Augen der beiden Protagonistinnen eine Sensibilität dafür zu entwickeln. Die Schweinezucht im Dorf hat ihre Schattenseiten, ein älterer Bauer kümmert sich zwar liebevoll um seine an Demenz erkrankte Frau, ist letzten Endes trotz einer Kurzzeit-Pflegerin aber hoffnungslos überfordert und sieht nur noch einen Ausweg, wie später in einer Bildeinstellung angedeutet wird. Und auch das Erbe der DDR mit den Hinterlassenschaften eines sowjetischen Truppenübungsplatzes wird nicht ausgespart, als die beiden Freundinnen auf ihren Streifzügen den Männern einer Munitionsräumstelle begegnen. Und doch haben alle diese Erlebnisse des Augenblicks auch etwas Magisches an sich und wirken nach – nicht etwa als traumatische Erfahrungen sondern als Anregung für die aktive Suche nach der eigenen Identität, nach einem möglichst selbstbestimmten eigenen Weg und nach einem erfüllten Leben, in dem Glück und Trauer eben nur die zwei Seiten einer Medaille sind.
Ein vollkommen unprätentiöser Coming-of-Age-Film der leisen Töne also, in dem alles offen und nichts vorhersehbar ist, vielleicht mit Ausnahme des Umstands, dass diese „Auszeit“ für Pia nicht von Dauer sein kann. Aber das alles mit einem vielleicht etwas melancholischen und letztlich doch rundweg optimistischen Grundtenor. Und um ein letztes Mal den Vergleich mit Thomes Film zu bemühen: Natürlich sind weder Mutproben auf Bahnschienen noch alte Munitionsbunker ein idealer Spielplatz für Kinder – und für Minderjährige genauso wenig. Es kommt viel mehr darauf an, wie und warum solche Handlungsorte in die Gesamthandlung und den dramaturgischen Aufbau eines Films eingebettet sind und daher ist der Film ab einem Alter von 12 Jahren zu empfehlen.
Holger Twele
Pia Piano - Deutschland 2022, Regie: Sylke Enders, Festivalstart: 27.10.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 93 Min. Buch: Sylke Enders. Kamera: Jakob Wehrmann. Schnitt: Anna Pesavento. Musik: Bert Wrede. Produktion: Silkwood Pictures, Joroni Film. Verleih: offen. Darsteller*innen: Anna-Maria Bednarzik (Pia), Johanna Schneider (Diana), Lina Schneider (Ivy), Steffen C. Jürgens (Dorftrottel Steffi), Shero Khalil (Kaya) u. a.
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