Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Festival > Wild Roots

Wild Roots

Entdeckt beim Kinderfilmfest München 2022: Eine Zwölfjährige trifft ihren Vater wieder. Die Geschichte eines doppelten Reifungsprozesses.

Durchtrainierte Einmeterneunzig, kahlrasierter Schädel, eisblaue Augen: Mit Tibor Kondor legt man sich besser nicht an. Wer es dennoch wagt, stellt schnell fest, dass der Türsteher und Security-Mann sein hitziges Temperament nicht unter Kontrolle hat. Ausgerechnet in einer solchen eskalierenden Situation treffen Tibor und die zwölfjährige Niki erstmalig nach Jahren der Trennung aufeinander: Tibor ist Nikis Vater, seit kurzem zurück in Budapest nach verbüßter mehrjähriger Haftstrafe. Verständlich, dass dieses Wiedersehen zunächst einmal bei beiden keine Begeisterung auslöst. Aber die holprige Zusammenführung der „getrennten Herde“ (so der Originaltitel) ist in Gang gesetzt.

Das Spielfilmdebüt der ungarischen Regisseurin Hajni Kis wurde nicht als Kinderfilm konzipiert und hält einer strengen Definition von Kinderfilm kaum stand. Dennoch gehört „Wild Roots“, der auf dem Münchner Kinderfilmfest 2022 lief, zu jenen Beispielen, für die sich eine großzügigere Auslegung lohnt. Für etwas ältere Kinder taugt der Film sehr wohl, erzählt er doch von der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt, von der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, von der bitteren Erfahrung von Ausgrenzung und Enttäuschungen und ebenso von Unabhängigkeit und innerer Stärke. Ohne Zweifel handelt es sich um einen Coming-of-Age-Film, nur sind es hier eben die Reifeprozesse einer Heranwachsenden und eines Erwachsenen.

Abwechselnd werden die beiden in ihren prekären Lebenssituationen eingeführt. Tibor, immer pleite, hat sich bei der Familie seines Bruders einquartiert und frisst regelmäßig den Kühlschrank samt Schulbroten leer. Niki wohnt seit dem Tod ihrer Mutter bei den Großeltern in einer beengten Plattenbauwohnung. Ein eigenes Zimmer – Fehlanzeige, sogar das Bett muss sie mit der Oma teilen. Es ist wohl kein Zufall, dass der Film mit Tibor startet: Der Fokus liegt stärker auf seiner Entwicklung, die von Niki angestoßen und maßgeblich beeinflusst wird. Tibor, impulsgesteuert und latent gewalttätig, braucht Nikis Hilfe als moralischen Kompass, der in Richtung Verantwortungsbewusstsein und soziale Kompetenz ausschlägt. Niki, die in ihrem jungen Alter bereits den Verlust von Mutter (und Vater) verkraften muss, ist ihm darin voraus, während sie sich auf Außenseiterposition mit bemerkenswerter Resilienz und faustdicken Lügen durchs Leben schlägt. Dass sie sich eine geschönte Identität und neue Eltern erfindet, ist angesichts der traurigen Realität verständlich. Dass sie damit auffliegt und aneckt, nur konsequent.

Zwei wie Feuer und Wasser, die sich in ihrer Sturheit in nichts nachstehen. Tibor ist der klassische einsame Wolf, der, unfähig zu Kompromissen, vermeintlich niemanden braucht und nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet. Niki wiederum wünscht sich zwar Freundschaften, aber auch nicht um jeden Preis. Sie biedert sich nirgends an, ist unbestechlich, egal ob es um süße Waffeln, Geld oder beschwichtigende Worte geht. „Harte Schale, weicher Kern“, auch das trifft auf beide zu. Hinter der coolen Fassade stecken zwei entwurzelte Menschen, die sich einer schmerzlichen Wahrheit stellen und Verantwortung übernehmen müssen. Nur so ist eine Katharsis, die Versöhnung mit sich und der Welt und ein Neuanfang denkbar. Dies geschieht ohne Pathos und berührt zutiefst

Das ist besonders den beiden Hauptdarsteller*innen Zorka Horváth und Gusztáv Dietz zu verdanken, die ohne Schauspielerfahrung und erst nach langwierigen Castingprozessen besetzt wurden. Gusztáv Dietz, ehemaliger Mixed Martial Arts-Champion, zieht einen sofort in seinen Bann mit seiner physischen Präsenz, die das unterschwellige Aggressionspotenzial und gleichzeitig Verletzlichkeit auslotet. Die eigenwillige und ausdrucksstarke Zorka Horváth ist das perfekte Gegenstück. So ist es ein großer Glücksfall und Genuss, wie gut die beiden auf der Leinwand als charismatisches Tochter-Vater-Gespann funktionieren und den gesamten Film tragen. Die Chemie zwischen ihnen stimmt, auch wenn sich das laut Regisseurin jenseits der Kamera ganz anders verhalten haben soll. Aber vielleicht ist genau deshalb ihr Zusammenspiel so überzeugend, nicht nur in der Annäherung, sondern besonders auch in der wiederholten gegenseitigen Verweigerung. Diese funktioniert oft stumm über Blicke, mit denen sie einander taxieren. Nikis Augen strafen mit tödlicher Verachtung, Tibors Eisblick hält stand, ohne zu blinzeln.

Am Ende der Story ist eine Kreisbewegung vollzogen, Niki und ihr Vater Tibor stehen scheinbar wieder am Ausgangspunkt. Mit einem Unterschied: Dieses Mal ist gewiss, dass sie zusammengehören.

Ulrike Seyffarth

© Filmfest München 2022
12+
Spielfilm

Külön Falka - Ungarn, Slowakei 2021, Regie: Hajni Kis, Festivalstart: 25.06.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 98 Min. Buch: Fanni Szántó, Hajni Kis. Kamera: Ákos Nyoszoli. Musik: Oleg Borsos. Schnitt: Vanda Gorácz. Produktion: Proton Cinema in Ko-Produktion mit MPhilms, Visionteam, Postoffice Films. Verleih: offen. Darsteller*innen: Zorka Horváth (Niki), Gusztáv Dietz (Tibor), Éva Füsti Molnár (Oma Éva), Viktor Kassai (Pali, Tibors Bruder), Mikold Szelid (Karola) u. a.