Belle
Im Kino: Ein wunderbarer, wilder, energiegeladener Stilmix über eine junge Frau, die in einer virtuellen Welt zu neuem Selbstbewusstsein findet.
Alles ist möglich in U, der digitalen Parallelwelt, in der Wale elegant durch die Luft gleiten und Menschen durch schillernde Avatare repräsentiert werden. Mamoru Hosoda, bekannt geworden mit „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang‟ (2006) und mittlerweile neben Makoto Shinkai und Hayao Miyazaki einer der bedeutendsten Anime-Regisseure, lässt sein Publikum schon mit den ersten Bildern in diese faszinierende Welt eintauchen und durch die virtuellen Hochhausschluchten fliegen. U ist so etwas wie eine Super-App und zugleich eine Steigerung des OZ-Cyberspace aus Hosodas „Summer Wars‟ (2009) – und sie ist viel mehr als nur pure Unterhaltung. Wer das Gefühl hat, sein Leben in der realen Welt nicht ändern zu können, der hat diese Chance womöglich in U. Denn die künstliche Intelligenz, die die biometrischen Daten der Nutzer*innen bei der Anmeldung scannt und in einen Avatar umwandelt, verspricht nichts weniger, als die wahren Seiten des Ichs zum Vorschein zu bringen. So ist die Einladung nach U für die 17-jährige Suzu, die ihre Mutter als Kind bei einem tragischen Unfall verloren hat und seither keine Freude mehr am Singen verspürt, wie ein Befreiungsschlag. Wenn Suzu in U ihre Stimme erhebt, dann kann sie kraftvoll durch ihre Lieder all ihren Schmerz zum Ausdruck bringen und neue Kraft schöpfen. In Windeseile wird die ansonsten so schüchterne Suzu in U zum Star. Und weil niemand ihre wahre Identität kennt, erhält sie den Nickname Belle.
Die Begegnung mit einem Drachen-Avatar, der eines von Belles virtuellen Konzerten stört, ist für Suzu ein Schlüsselerlebnis. Sie fühlt sich hingezogen zu diesem monströsen Wesen, auf das andere sogleich Jagd machen. Nur Suzu scheint zu ahnen, dass sich hinter der furchteinflößenden Oberfläche etwas anderes verborgen sein muss. Also macht sie sich mit Unterstützung einer nerdigen Freundin auf die Suche, um die Wahrheit über das vermeintliche Biest in Erfahrung zu bringen.
Wagemutig vermischt Hosoda auch in seinem neuen Film unterschiedlichste Einflüsse. Die Jugend-Alltagsgeschichte von Suzu reichert er in der digitalen Welt durch Motive aus dem französischen Märchenklassiker „La Belle et la Bête‟ („Die Schöne und das Biest‟) an – und verneigt sich dabei ästhetisch in einer opulenten Musicalszene vor der Adaption dieses Stoffs in dem gleichnamigen Disney-Film aus dem Jahr 1991. Hand in Hand gehen die Genres Slice-of-Life und Science Fiction, Märchen, Musical und Drama, während Hosoda auch Tomm Moore und Ross Stewart vom irischen Animationsstudio Cartoon Saloon („Die Melodie des Meeres‟, „WolfWalkers‟) ins Boot geholt hat, um mit ihrem ganz eigenen Stil eine Sequenz in U zu gestalten, den Avatar von Belle durch den Disney-Designer Jin Kim entwerfen ließ oder für den Look des U-Universums mit dem englischen Architekten Eric Wong zusammenarbeitete. Diese Offenheit für unterschiedlichste inhaltliche und ästhetische Elemente prägte bereits die früheren Filme von Hosoda, vom Zeitreise-Coming-of-Age-Film „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang‟ über das Fantasy-Familien-Drama „Ame und Yuki – Die Wolfskinder‟ (2012) bis hin zur Science-Fiction-Zeitreise-Familiengeschichte „Mirai‟ (2018). Mit „Belle‟ jedoch entsteht zusätzlich ein aufregender globaler Stil-Mix, der weit über die – auch für sich genommen schon ungemein spannende – japanische Anime-Tradition und -Ästhetik hinausweist.
Trotz aller Übertreibungen und Überhöhungen ist „Belle‟ aber auch wieder ganz nah am Leben. Das Spiel mit Identitäten, die Möglichkeit, in Online-Netzwerken in andere Rollen zu schlüpfen, damit experimentieren zu können und anders wahrgenommen zu werden – all dies ist mittlerweile ein fester Bestandteil der Mediensozialisation (nicht nur) junger Menschen. Es ist angenehm, wie wohlwollend Hosoda auf dieses Zusammenspiel zwischen realer und virtueller Welt blickt. Es ist ihm wichtiger, Möglichkeiten aufzuzeigen, anstatt vor Gefahren zu warnen. Erst durch ihr Alter Ego Belle gelingt es Suzu, auch im realen Leben über sich hinauszuwachsen. Dass der Film sich dabei von der Märchenvorlage entfernt und Suzu für ihre Emanzipation nicht mehr auf männliche Figuren angewiesen ist, ist nur konsequent. Lediglich das Thema häusliche Gewalt, das „Belle‟ am Rande anschneidet, bleibt an der Oberfläche und ist letztlich kaum mehr als ein dramaturgischer Anlass.
Dafür spielt Hosoda seine Stärken wieder voll und ganz aus, wenn es um die Beobachtungen der Beziehungen zwischen den Figuren geht. Wenn er in einer aberwitzigen Szene zeigt, wie Suzu ihrem Schwarm begegnet und sich unbeholfen um Kopf und Kragen redet, dann ist „Belle‟ eine wunderbare Coming-of-Age-Komödie. Berührend ist unterdessen, wie er in knappen Rückblenden Suzus enge Beziehung zu ihrer Mutter aufleben lässt – und wie Suzus Vater später, nach dem Tod seiner Frau, große Angst davor hat, seine Tochter loszulassen. Gleich in mehrfacher Hinsicht geht es in „Belle‟, diesem wunderbaren, wilden, energiegeladenen Coming-of-Age-Film, so vor allem um Neuanfänge und Aufbrüche.
Stefan Stiletto
Belle - Japan 2021, Regie: Mamoru Hosoda, Kinostart: 09.06.2022, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 121 Min. Buch: Mamoru Hosoda. Musik: Ludvig Forssell, Yūta Bandō. Schnitt: Shigeru Nishiyama. Produzenten: Yūichirō Saitō, Genki Kawamura, Nozomu Takahashi, Toshimi Tanio. Produktion: Studio Chizu. Verleih: Koch
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