Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann
Ein herausragender Dokumentarfilm über fünf junge Menschen mit Autismus und deren Sicht auf ihre Umwelt.
Ein Dokumentarfilm über Autismus beziehungsweise über junge Menschen, die nicht sprechen können – das weckt Neugier und sorgt zugleich für Irritationen. Haben uns doch erfolgreiche Spielfilme wie etwa „Rain Man“ (1988), „Ich bin Sam“ (2001), „Ben X“ (2007) oder „Das Pferd auf dem Balkon“ (2012) über Jahrzehnte hinweg suggeriert, dass Menschen mit Autismus sich sehr wohl artikulieren können. Und wird von der Umweltaktivistin Greta Thunberg nicht ebenfalls glaubhaft behauptet, sie sei autistisch, obwohl sie dann sogar vor den Vereinten Nationen eine Rede hält? Da es also offensichtlich vielfältige Ausprägungen von Autismus gibt, wird heute nur noch der Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“ verwendet. Die Eigenschaften oder Einschränkungen insbesondere in Bezug auf die soziale Kommunikation, auf Übersensibilität und Angstzustände können dabei sehr unterschiedlich sein. Das gilt auch für die Fähigkeit, sich gegenüber anderen Menschen verständlich zu machen. Einige können tatsächlich nicht reden, was sie in eine schier ausweglose Lage bringt, denn sie können ihre Gefühle und Bedürfnisse anderen gegenüber nicht allgemein verständlich vermitteln und fühlen sich wie in einem inneren Gefängnis. Um fünf solcher junger Menschen auf der ganzen Welt geht es in dem Dokumentarfilm „The Reason I Jump‟ von Jerry Rottwell, der nach dem gleichnamigen Buch von Naoki Higasida entstanden ist. Mit diesem gelang es Higasida, selbst ein betroffener Teenager, der „Außenwelt‟ erstmals zu vermitteln, was in ihm und anderen Menschen mit Autismus-Störung vorgeht und wie sie sich und ihre Umwelt wahrnehmen. Übersetzt ins Englische wurde es in Zusammenarbeit mit K.A. Yoshida von David Mitchell, der selbst einen autistischen Sohn hat, wobei ihm das Buch half, seinen Sohn besser zu verstehen.
Ein Buch lässt sich bekanntlich nicht eins zu eins in das Medium Film übertragen. Und das ist der Grund, warum dieser Film weit über den Informationsgehalt hinaus bemerkenswert und sogar einzigartig ist. Neben den dokumentarischen Porträts der fünf Jugendlichen und Interviews mit ihren Verwandten und einer Sprachtherapeutin nutzt der Film auch Elemente des Spiel-, Animations- und Experimentalfilms, um dem Publikum eine audiovisuelle Vorstellung davon zu geben, wie die Protagonist*innen die Welt wahrnehmen, was sie fühlen, wie sich ihre Zeitwahrnehmung von anderen Menschen unterscheidet und wie sie ihre Umwelt oft nur sehr selektiv wahrnehmen. Gekonnt setzt er filmsprachliche Mittel wie Licht- und Farbgebung, Kameraeinstellungen mit vielen Detailaufnahmen, Montage, Tonmodulationen, Voiceover, Musik und Geräusche für sein Anliegen ein. Darüber hinaus greift er auf bereits bestehende Kunst- und Ausstellungsobjekte zurück. Als roter Faden fungiert ein stummer Junge, der immer wieder ins Bild rückt, durch verschiedene Landschaften läuft und auf den Buchautor Naoki Higasida und seine Erinnerungen als Kind verweist. Einige seiner im Buch niedergeschriebenen Gedanken sind in diesen Szenen dann als Voiceover zu hören.
Doch nun zu den porträtierten Jugendlichen selbst, die nicht sprechen können. Die Inderin Amrit fasst ihre Sinneseindrücke und Erinnerungen in kunstvoll gemalte Bilder, die so gut sind, dass sie damit sogar eine Ausstellung bestreitet. Joss aus dem Vereinigten Königreich drückt sich in Schreien aus, findet im Trampolinspringen eine Art Befreiung und kann jeden summenden Transformatorkasten aus großer Entfernung orten. Jestina aus Sierra Leone drückt sich ebenfalls in Bewegungen aus, fühlt sich in der Natur besonders wohl und hat das Leben ihres Vaters zum Positiven hin beeinflusst. Emma und Ben aus den USA haben sich bereits als Kinder gefunden und sind davon überzeugt, dass der Wert ihrer Freundschaft ohnehin nicht mit Worten beschrieben werden kann. Dank einer Sprachtherapeutin haben sie gelernt, sich mit Hilfe einer Buchstabenschablone auszudrücken, wobei jeder Buchstabe einzeln von ihnen angezeigt wird. Auf diese Weise nehmen sie sogar aktiv am Unterricht teil, der vorher nur „reine Zeitverschwendung“ gewesen ist.
Darüber hinaus thematisiert der Film, dass die Menschenrechte bei diesen Menschen lange Zeit eklatant verletzt worden sind, sie und ihre Angehörigen stigmatisiert und abgelehnt, in Afrika als „Kinder des Bösen“ sogar im Busch ausgesetzt wurden. In dem Maße, indem sie sich anhand verschiedener Methoden selbst „ausdrücken“ können, wird klar, welche ungeahnten Fähigkeiten in ihnen stecken und wie sehr sie ein Recht darauf haben, im Sinne der Neurodiversität so akzeptiert zu werden, wie sie sind.
Holger Twele
Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung des Films bei LUCAS - Internationales Festival für junge Filmfans 2021 verfasst.
The Reason I Jump - USA, Großbritannien 2020, Regie: Jerry Rottwell, Festivalstart: 30.09.2021, Kinostart: 31.03.2022, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 94 Min. Buch: Nach dem Buch „The Reason I Jump“ von Naoki Higasida. Kamera: Ruben Woodin Dechamps. Musik: Nainita Desai. Schnitt: David Charap. Produktion: Jeremy Dear, Stevie Lee. Verleih: DCM. Mitwirkende: Amrit Khurana, Joss Dear, Ben McGann, Emma Budway, Jestina Penn Timity, Jim Fujiwara u. a.
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