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Lingui – Heilige Bande

Entdeckt beim „Schlingel‟: Eine 15-Jährige, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurde, kämpft im Tschad für eine Abtreibung.

Seinen ersten internationalen Erfolg feierte der im Tschad geborene und später in Frankreich tätige Filmemacher und Journalist Mahamat-Saleh Haroun mit dem Film „Abouna“ (2002). In diesem Film machen sich zwei Brüder auf die Suche nach ihrem plötzlich verschwundenen Vater, von der sie sich auch nicht abhalten lassen, als die Mutter sie in eine streng ausgerichtete islamische Schule steckt. Knapp 20 Jahre später spielen in seinem neuen Film die Väter kaum noch eine Rolle. Fast könnte man denken, Haroun sei nun ein überzeugter Feminist. Dem Film gereicht das gewiss nicht zum Nachteil, denn er reflektiert die Situation von Frauen in einer islamisch geprägten Gesellschaft weitgehend aus ihrer Perspektive, empathisch und präzise, wobei die reale Hoffnung auf Veränderung nicht auf der Strecke bleibt. Schließlich geht es um „Lingui“, um „heilige“ Beziehungen und Allianzen von Frauen, die sich gegen die immer noch patriarchalisch ausgerichtete Gesellschaft verbünden und damit Erfolg haben.

Zunächst allerdings scheint es, als hätte sich in den vergangenen zwanzig Jahren in N‘Djamena, der Hauptstadt des zentralafrikanischen Staates Tschad, nichts verändert. Amina hatte ihre inzwischen 15-jährige Tochter Maria seinerzeit als uneheliches Kind zur Welt gebracht. Sie wurde deswegen vom Vater verstoßen und auch ihrer Schwester wurde der weitere Kontakt mit ihr untersagt. Mühsam hat sich Amina eine eigene Existenz aufgebaut, indem sie aus den Drahtgeflechten alter Autoreifen in Handarbeit Kohlegrills anfertigt und diese für wenig Geld verkauft. Selbst den unablässigen Avancen ihres älteren reichen Nachbarn widersteht sie konstant, denn sie möchte ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit nicht verlieren. Doch plötzlich ist ihre Tochter Maria schwanger, wobei der Film vorerst nur visuell andeutet, dass sie vergewaltigt worden ist. Aminas Schicksal scheint sich also zu wiederholen, Maria allerdings möchte kein uneheliches Kind austragen, schon gar nicht das eines Vergewaltigers. Abtreibungen sind im Tschad per Gesetz verboten, jede Zuwiderhandlung wird streng bestraft. Mit Ausnahme eines Arztes, der gegen Geld bereit wäre, Kopf und Kragen zu riskieren, können Mutter und Tochter von den Männern keine Hilfe erwarten. Stattdessen drängt der Iman die beiden Frauen, endlich wieder in die Moschee zu kommen. Wer Maria vergewaltigt haben könnte, interessiert ihn nicht im Geringsten. Aber es gibt einige Frauen, die Amina und ihrer Tochter helfen wollen und mit viel List und Geschick versuchen, das scheinbar unabwendbare Schicksal von Maria abzuwenden.

Bei einem westlich geprägten Publikum wird Haroun mit seinem auch visuell beeindruckenden, ruhig erzählten Film sicher viel Sympathie erhalten und die Aufmerksamkeit obendrein auf ein Problem lenken, das hierzulande viel zu wenig bekannt ist. Ob das im Tschad selbst auch der Fall wäre, sei dahingestellt. Besonders ausführlich dokumentiert der Film den Arbeitsalltag der selbstständigen Mutter, die alte LKW-Reifen aufkauft und sie aufschlitzt, um die dicken Stützdrähte herauszunehmen und vom Gummi zu befreien. Eine schweißtreibende Arbeit, die allein schon allen Respekt gegenüber der Mutter einfordert. Nicht alle Szenen erschließen sich dem Publikum auf Anhieb in der gleichen Weise. Wer die Polizei von der bevorstehenden Abtreibung informierte, lässt sich nur visuell durch die Montage zweier Einstellungen erschließen. Unklar, wenn auch nicht unerklärlich bleibt auch, warum Aminas Schwester plötzlich keine Angst mehr vor dem Vater hat, der ihr jeden Kontakt untersagte, und warum Aminas Versuche, den Vergewaltiger ihrer Tochter zu bestrafen, keine unmittelbaren Konsequenzen nach sich ziehen. Gerne hätte man auch mehr darüber erfahren, wie es einer „Medizinfrau“ gelingt, die Beschneidungen von Mädchen nur vorzutäuschen, was neben der Abtreibung im Film ebenfalls zur Sprache kommt. Zumindest das sollte aus nachvollziehen Gründen vielleicht wirklich ihr Berufsgeheimnis bleiben, allein schon für den Fall, dass der Film doch noch im Tschad gezeigt wird. Einem westlich geprägten Publikum sei der Film in jedem Fall ausdrücklich empfohlen.

Holger Twele

 

© déja-vu Film
16+
Spielfilm

Lingui - Tschad, Frankreich, Deutschland, Belgien 2021, Regie: Mahamat-Saleh Haroun, Festivalstart: 15.10.2021, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 87 Min. Buch: Mahamat-Saleh Haroun. Kamera: Mathieu Giombini. Musik: Wasis Diop. Ton: Thomas Bourik. Schnitt: Marie-Hélène Dozo. Produktion: Pili Films, Goï Goï Productions, in Koproduktion mit Made In Germany Filmproduktion und Beluga Tree. Verleih: déja-vu Film. Darsteller*innen: Achouackh Abakar (Amina), Rihane Khalil Alio (Maria), Youssouf Djaoro, Briya Gomdigue, Hadje Fatime N‘Goua u. a.