Everbody’s Talking About Jamie
Auf Amazon Prime: Launige, wenngleich recht glatte Adaption des Musicals über einen Jugendlichen, der Drag Queen werden will.
11. Klasse, die letzte Stunde in Berufskunde: Jamie New weiß genau, was er werden will: Drag Queen! Klar, dass das nicht überall auf Verständnis und Gegenliebe stößt. Aber auf seine beste, einzige Freundin Pritti kann er zählen, und seine Mutter Margaret ist sein größter Fan überhaupt. Zum 16. Geburtstag schenkt sie ihm die heißersehnten High Heels, und Pritti ermutigt ihn, diese zum bevorstehenden Abschlussball zu tragen. Dann am besten gleich ganz als Drag Queen! Einen kundigen Mentor findet Jamie in Hugo Battersby, einst besser bekannt als Loco Chanelle. Jamies Feuertaufe auf der Drag-Showbühne gelingt schon mal. Aber dann wird ihm die Teilnahme am Abschlussball verwehrt.
Das Filmmusical beruht auf der wahren Geschichte des englischen Teenagers Jamie Campbell, auf dessen Initiative eine TV-Dokumentation des BBC entstand („Jamie, Drag Queen at 16“, Jenny Popplewell, 2011). Diese wiederum inspirierte Jonathan Butterell zum Musical, das seit 2018 am Apollo Theatre im Londoner West End läuft. Wie viele auf der Theaterbühne erfolgreiche Musicals zuvor schafft nun auch dieses den Sprung auf die Leinwand, mit demselben Autoren-, Regie- und Musikteam an Bord. Das Songrepertoire wurde gekürzt, dennoch spart der Film nicht mit Gesangseinlagen. Die eingängigen Stücke von Dan Gillespie Sells und Anne Dudley („Mamma Mia! Here We Go Again“, Ol Parker, 2018) sind typische Musicalnummern: mitreißend, zum Teil mit Ohrwurmpotenzial, die ganze Gefühls- und Figurenpalette abdeckend und immer einen Tick zu lang. Videoclipästhetik sorgt für visuelle Abwechslung, und natürlich sind die Tanzszenen perfekt choreografiert. Das ist durchaus gelungen, hebt den Film aber nicht von anderen ab.
Was aufmerken lässt, ist sein Titelheld. Max Harwood gibt in seinem Filmdebüt eine sensationelle Performance als charismatischer Jamie. Platinblond gefärbt, schlank und mit markantem Gesicht, ist er eine Erscheinung. Es gelingt ihm erstaunlich gut, in dieser Rolle nicht zu chargieren. Im Gegenteil, er versprüht natürlichen Charme, wenn er sich souverän auf knallrot glitzernden High Heels bewegt, um die ihn Dorothy in Oz beneidet hätte.
High School-Musical goes queer: neu ist das nicht. Man denke an den stargespickten „The Prom“ (Ryan Murphy, 2020), in der ein lesbischen Teenager nicht am Abschlussball teilnehmen darf. Überhaupt scheint es Abschlussbälle nur zu geben, um die Konflikte von Außenseiter-Protagonist*innen im finalen Akt zuzuspitzen und aufzulösen. Jetzt also die Drag-Variante, mit netten kleinen Verweisen auf die Popkultur und Filmperlen wie „The Rocky Horror Picture Show“ (Jim Sharman, 1975). Die Filmhandlung ist sehr auf die Figur Jamie konzentriert; nur die nötigsten Figuren werden eingeführt, klassisch aufgeteilt in Unterstützer*innen und Antagonist*innen. Der Rest der Besetzung hat seine Daseinsberechtigung in Tanz- und Singszenen. Alle reden von Jamie, und nur von Jamie. Da hätte man sich schon etwas differenziertere Ansätze in der Figurenzeichnung und Erzählung gewünscht. Immerhin werden Jamies Mutter Margaret ein paar Solo-Szenen eingeräumt. Für Jamie setzt sie sich mit ihrem Ex-Mann auseinander, der sich komplett von seinem „abstoßenden“ Sohn abgewendet hat. Eine Wahrheit, vor der Margaret Jamie um jeden Preis bewahren will.
Im gesungenen Rückblick auf das Drag Queen-Leben von Hugo Battersby (würdevoll und bewegend: Richard E. Grant) findet kurz die politische Dimension der Drag Queens und queeren Szene Eingang, die in den 1980er- und 1990er-Jahren mit ihrer Lebensart gegen das Gesetz verstießen, und auch Aids wird erwähnt. Drag ist mehr als Sich-Verkleiden und „instafamous“ werden, erkennt Jamie.
Unterm Strich bleibt die klassische Coming-of-Age-Geschichte eines mutigen Außenseiters, der den Kampf aller Jugendlicher erlebt, um seinen Platz in der Welt und die eigene Identität zu finden. Wo es um Genderfragen geht, ist Diskriminierung nicht weit. Jamies schmerzlicher Erfahrung von Ablehnung und Ausgrenzung ist die uneingeschränkte Liebe und Loyalität seiner Mutter und Freundinnen plakativ entgegengestellt. Selbstredend ist die Auflösung am Ende viel zu glatt, um glaubwürdig zu sein. Aber schließlich ist dies ein Musical, nicht die wirkliche Welt. Und als solches ist es dann doch vor allem ein Vergnügen.
Ulrike Seyffarth
Everbody’s Talking About Jamie - USA, Großbritannien 2020, Regie: Jonathan Butterell, Homevideostart: 17.09.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 115 Min. Buch: Tom McRae, nach dem Musical von Jonathan Butterell und Dan Gillespie Sells. Kamera: Christopher Ross. Musik: Anne Dudley, Dan Gillespie Sells. Schnitt: Mark Everson. Produktion: New Regency Productions, Film4, Warp Films, 20th Century Studios. Anbieter: Amazon Prime Video. Darsteller*innen: Max Harwood (Jamie New), Lauren Patel (Pritti Pasha), Shobna Gulati (Ray), Sarah Lancashire (Jamies Mutter Margaret), Richard E. Grant (Hugo Battersby), Samuel Bottomly (Dean Paxton), Sharon Horgan (Miss Hedge) u. a.
Altersempfehlung 14-18 Jahre
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