Blue My Mind
Body Horror als Metapher für das Erwachsenwerden. Lisa Brühlmann erzählt ebenso poetisch wie drastisch vom steinigen Weg durch die Pubertät.
Nein, mit der anständigen Sophie will Mia nichts zu tun haben. Während Sophie sich höflich vorstellt und dafür interessiert, weshalb Mia mitten im Schuljahr in ihre Klasse gekommen ist, fühlt Mia sich vielmehr zu der coolen Clique um Gianna hingezogen. Gianna tanzt betont aufreizend vor den Jungen und weiß ihren Körper einzusetzen. Mit Mia kann sie deshalb nichts anzufangen. „Hast du schon deine Tage?“, fragt sie beim ersten Gespräch und bringt Mia in eine peinliche Situation. Keine Periode, keine Erfahrungen mit Jungen: In den Augen von Gianna hat Mia noch viel zu lernen. Trotzdem nimmt sie Mia unter ihre Fittiche. Durch Gianna erhält die 15-jährige Mia Einblicke in eine Welt, die ihr noch fremd ist. Gianna zeigt ihr Pornos und wie man online flirtet. Und wie man sich in den Zustand der Bewusstlosigkeit bringt, um sich danach wieder neu zu spüren. Sich spüren und ein neues Leben beginnen, das will auch Mia.
Hunger nach neuen Erfahrungen, nach dem Erleben von Sexualität, nach dem Spüren des eigenen Körpers – und damit verbunden das schreckliche Gefühl, nicht normal zu sein: „Blue My Mind“ ist ein weiterer Coming-of-Age-Filme, der mit Anleihen des Horrorkinos über das Erwachsenwerden erzählt und die Wandlung des Körpers in der Pubertät als wahrhaft schaurige Erfahrung darstellt. Als Mia endlich ihre Tage bekommt, verspricht ihr Körper ihr einen neuen Lebensabschnitt. Aber mit diesem verbunden ist auch eine schockierende Entdeckung: Mia bemerkt, dass ihre Zehen plötzlich miteinander verwachsen sind. Ja sogar kleine Membranen, die an Schwimmhäute erinnern, haben sich dazwischen gebildet. Zudem schwillt die Haut um ihre Knöchel blau an. Bald sind ihre ganzen Beine davon betroffen. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit Mia. Hilflos muss sie zusehen, wie sie die Kontrolle über ihren Körper verliert.
Lisa Brühlmann verzichtet in ihrem Regiedebüt nicht auf drastische Szenen. Animalisch mutet es an, wenn Mia sich überraschend die Goldfische der Mutter einverleibt oder einen sezierten Fisch nach dem Biologieunterricht regelrecht auffrisst. Der unbeholfene hektische erste Sex mit einem Jungen, den sie kaum kennt, legt wiederum ihre mangelnde Reife offen, bleibt aber im Vergleich zu einer späteren Situation noch harmlos, weil Mia hier noch selbst das Heft in der Hand hält.
Die Entfremdung vom Kind, das noch zu Beginn des Films – vielleicht schon ein wenig neugierig – auf das Meer hinausblickt und nicht ahnt, was sich in dessen Tiefe verbergen mag, führt aber schließlich doch noch zur Freiheit und es ist großartig anzusehen, wie Lisa Brühlmann dem Genre der Phantastik hier treu bleibt und ihre Mia wahrhaftig abdriften lässt in eine ganz andere Welt und ein ganz anderes Leben. Wenn „Blue My Mind“ mit einer Versöhnung endet und Mia ihren veränderten Körper zu akzeptieren lernt, dann sieht das hier ganz anders aus als in anderen Jugendfilmen und macht gerade dadurch deutlich, wie einschneidend diese Lebensphase empfunden werden kann, die mit der Ablösung von den Eltern, von dem Kind in sich, von allem Vertrauten einhergeht und mit den ersten Schritten in das Unbekannte sowie den damit verbundenen Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist.
Stefan Stiletto
Blue My Mind - Schweiz 2017, Regie: Lisa Brühlmann, Kinostart: 01.11.2018, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 97 Min., Buch: Lisa Brühlmann, Kamera: Gabriel Lobos, Schnitt: Noëmi Preiswerk, Musik: Thomas Kuratli, Produktion: Stefan Jäger, Katrin Renz, Filippo Bonacci, Verleih: Meteor Film, Besetzung: Luna Wedler (Mia), Zoë Pastelle Holthuizen (Gianna), Regula Grauwiller (Gabriela), Georg Scharegg (Michael), Lou Haltinner (Nelly) u. a.
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