CODA
Auf Apple TV+: Ruby liebt das Singen. Aber die Welt der Musik bleibt ihren gehörlosen Eltern verschlossen.
Manchmal sind es nicht die großen Themen, die von einem Film im Gedächtnis bleiben, sondern die kleinen Szenen. Einer der schönsten Momente in „CODA‟, dem US-amerikanischen Indie-Film, der 2021 beim Sundance-Festival nicht nur mit dem Grand Jury-Preis, sondern auch dem Regie-, dem Ensemble- und dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, ist etwa jener, in der die 17-jährige Ruby gemeinsam mit ihrem Klassenkameraden Miles ein Duett einstudieren soll – und zwar ausgerechnet zu der großen Liebeshymne „Your’re all I need to get by‟ von Marvin Gaye und Tammi Terrell. Wie großartig fühlt es sich an, seiner heimlichen Liebe auf einmal die schönsten Liebesbekundungen ins Gesicht singen zu dürfen! Und wie seltsam, wie schwer, wie unangenehm, wie peinlich ist es gleichzeitig! So sehr, dass Ruby Miles dabei gar nicht in die Augen sehen kann und beide danach Rücken an Rücken üben, aber immerhin mit Körperkontakt. Unheimlich charmant ist diese Szene, weil man sich so gut hineinversetzen kann in Ruby und mit ihr leidet, weil man nicht nur sieht, sondern spürt, wie sie sich fühlt inmitten all dieser widersprüchlichen Empfindungen. Zu diesem Zeitpunkt weiß man zudem bereits, dass das Singen alles für Ruby ist und ihr Miles auch deshalb so viel bedeutet, weil sie mit ihm eine Leidenschaft teilt, die ihre Familie nicht versteht. Nicht, weil sie sie nicht verstehen wollte, sondern weil sie es einfach nicht kann. Ruby ist in ihrer Familie die einzige, die hören kann – ihre Eltern und ihr älterer Bruder Leo sind gehörlos.
„CODA‟, abgekürzt für „child of deaf adults‟, Kind gehörloser Eltern, ist das Remake des französischen Films „Verstehen Sie die Béliers?‟ und verlagert die Handlung von Westfrankreich in die Kleinstadt Gloucester in Massachusetts in den USA, wo viele Menschen von der Fischerei leben. Dazu gehören auch Rubys Eltern. Und Rubys Mithilfe im Familienbetrieb ist unabkömmlich. Ihre Eltern sind auf sie als Dolmetscherin angewiesen und brauchen sie, um beim Fischen Anweisungen per Funk erhalten zu können. Genau dies bringt Ruby so sehr in Bedrängnis. Sie weiß, dass sie gebraucht wird und will ihre Familie nicht im Stich lassen, die gerne mal von skrupellosen Hörenden bei Geschäften ausgetrickst wird. Zugleich aber will sie auch ihren eigenen Weg gehen – was noch schlimmer wird, weil ihr großes Talent eben im Singen liegt und damit in einer Welt, die ihren Eltern verschlossen bleibt. Als der Musiklehrer Bernardo Villalobos Ruby unterrichten will, um an einer Aufnahmeprüfung für eine Musikhochschule teilzunehmen, sagt Ruby zu. Anfangs gelingt ihr noch der Spagat zwischen Familie und Gesangsausbildung, doch bald droht alles schiefzulaufen.
Der Konflikt von Ruby, der Erinnerungen an Caroline Links ganz ähnlich gelagertes Drama „Jenseits der Stille‟ aus dem Jahr 1996 weckt, könnte eigentlich nicht größer sein. Und der Film von Siân Heder schafft es auch, stets ganz nah bei den Figuren zu bleiben und in ihre Welt einzutauchen, sogar in jene der Nebenfiguren. Aber trotzdem kann „CODA‟ nicht verleugnen, dass er im Kern dann doch ein Feelgood-Movie ist, wie es im Buche steht. Es gibt viel Witz, ein wenig platten Humor (wie etwa Rubys Eltern beim lautstarken Sex, während Miles zu Besuch ist), Montagesequenzen zu netter Musik und die obligatorische Szene, in der Ruby, die von der aus „Locke & Key‟ bekannten Emilia Jones gespielt wird, all ihren Frust laut hinaus schreit. So geht „CODA‟ immer wieder zu Herzen, berührt und macht auch Spaß, verunsichert jedoch nicht. Aber vielleicht gelingt ihm gerade dadurch ein guter Einblick in die Lebenswelt gehörloser Menschen, die hier auch wirklich von gehörlosen Schauspieler*innen verkörpert werden, fernab eines üblichen Problemfilms. Und vielleicht die schönste Erkenntnis ist, dass man auch mit den Händen singen kann.
Stefan Stiletto
CODA - USA 2021, Regie: Siân Heder, Homevideostart: 13.08.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 111 Min. Buch: Siân Heder. Kamera: Paula Huidobro. Musik: Marius De Vries. Schnitt: Geraud Brisson. Produzenten: Fabrice Gianfermi, Philippe Rousselet, Patrick Wachsberger. Produktion: Vendome Pictures, Pathé Films, Picture Perfect Federation. Anbieter: Apple TV+. Darsteller*innen: Emilia Jones (Ruby Rossi), Marlee Matlin (Jackie Rossi), Troy Kotsur (Frank Rossi), Daniel Durant (Leo Rossi), Eugenio Derbez (Bernardo Villalobos) u. a.
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