Schwimmen
Ein ungemein authentischer Debütfilm, in dem aus einem Mobbing-Opfer eine Täterin wird.
Aus unerfindlichen Gründen blutet die 15-jährige Elisa häufig aus der Nase und fällt kurz in Ohnmacht, wenn sie oder andere nicht sofortige Gegenmaßnahmen einleiten. Unterstützung und Mitgefühl ihrer Klassenkamerad*innen sollten auch ohne eindeutige Diagnose selbstverständlich sein, sind es aber nicht. Stattdessen nutzen einige von ihnen die Situation aus, legen sich in der Dusche neben die Ohnmächtige, entkleiden sie teilweise, stellen die Aufnahmen ins Internet. Der Spott der ganzen Schule ist Elisa sicher. Die überforderten Lehrer*innen und andere Erwachsene bekommen unterdessen von alledem nicht das Geringste mit, nicht einmal dann, als Elisa von einigen Jungen im Schwimmbad wiederholt unter Wasser gedrückt wird. Elisas Eltern wiederum, die sich kurz zuvor getrennt haben, sind gar nicht in der Lage, ihre Tochter zu verstehen und zu unterstützen.
In der heutigen Generation Smartphone verschwimmen die Grenzen von „Gut“ und „Böse“ immer mehr, aus Opfern werden ohne Umschweife Täter*innen und umgekehrt, die Digitalisierung des Alltags macht es möglich. Elisa freundet sich mit ihrer neuen Mitschülerin Anthea an, die wie Elisa zur Außenseiterin wird. Ihre wilde Freundschaft muss selbstverständlich dokumentiert werden, Handy-Videos dienen nicht zuletzt der Selbstvergewisserung einer ansonsten brüchig erlebten Realität. Und mehr noch: Elisa beginnt, bald auch ihre Mitschüler*innen heimlich in verfänglichen Situationen zu filmen. Sie stellt die Videos anonym ins Internet und setzt sich auf diese Weise gegen ihr erlittenes Mobbing zur Wehr. Rache ist süß und der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten. Nun sind es die anderen, die am eigenen Leib schmerzlich erfahren, was Cybermobbing bedeutet. Elisa allerdings bekommt dann doch Gewissensbisse, zumal einer ihrer Mitschüler bei einer Mutprobe beim Schwimmen im See beinahe ertrinkt. Anthea ist da weniger zimperlich und so muss sich Elisa entscheiden, was sie wirklich will und was ihr die Freundschaft mit Anthea bedeutet.
Für ihren fulminanten Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg gewann Luzie Loose bereits den Förderpreis der Caligari-Filmstiftung in Höhe von 5000.- Euro. Auf den Hofer Filmtagen kam dann der erstmals vergebene Hofer Goldpreis der Friedrich-Baur-Stiftung für die beste Regieleistung bei einem ersten Langspielfilm in memoriam Heinz Badewitz in Form eines zertifizierten Goldbarrens im Wert von rund 35.000 Euro dazu. Kein schlechter Start für die berufliche Karriere der Regisseurin, die in ihrem Coming-of-Age-Film die klassischen Herausforderungen der Jugend aufgreift, aber in teils überraschende neue dramaturgische Zusammenhänge stellt. Das betrifft nicht zuletzt die Form und die extrem subjektive Perspektive ganz in Augenhöhe der Jugendlichen selbst. Loose zufolge wollen ihre beiden Protagonistinnen „aktiv an der Bilderflut teilnehmen, die im Netz verbreitet wird“. Da ihre Handyvideos ein wichtiger Bestandteil in ihrem Leben geworden sind, fließt das von ihnen gedrehte Material unmittelbar in den Film mit ein. Solche kleinen Filme im Film sind zwar nicht neu, aber sie machen diese Geschichte um ganz neue Formen von persönlicher Schuld und Verantwortung sowie den Druck, der durch die sozialen Medien entsteht, weitaus authentischer als bemühte Versuche, jugendliche Lebensgefühle etwa mit wackeliger Handkamera vorzutäuschen.
Für einen Abschlussfilm spielt sich das Drama an ungewöhnlich vielen, optisch attraktiv in Szene gesetzten Schauplätzen ab. Beispielsweise wurden einige Szenen bei einem Rave am 1. Mai in Berlin oder auf echten Partys gedreht und auch die Mitschüler*innen wurden nicht eigens für den Film gecastet, sondern gehen tatsächlich dort auch zur Schule. All das verleiht dem Film fast schon eine dokumentarische Note. Vor allem aber trägt sich der Film durch die beiden Hauptdarstellerinnen, insbesondere durch Stephanie Amarell, die im Alter von elf Jahren von Michael Haneke für seinen Film „Das weiße Band“ entdeckt worden ist. Ihr gelingt es, Elisa so authentisch zu spielen, als wäre sie es selbst
Holger Twele
Die Kritik wurde anlässlich der Festivalaufführung im Rahmen der Hofer Filmtage 2018 verfasst.
Schwimmen - Deutschland 2018, Regie: Luzie Loose, Festivalstart: 26.10.2018, Kinostart: 12.09.2019, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 102 Min., Buch: Luzie Loose, Kamera: Anne Bolick, Schnitt: Marco Rottig, Produktion: Christoph Holthof-Keim, Daniel Reich, Verleih: UCM.ONE, Besetzung: Stephanie Amarell (Elisa), Lisa Vicari (Anthea), Alexandra Finder (Anna), Jürg Plüss (Ralph), Jonathan Berlin (Pierre), Deborah Kaufmann (Thekla), Christian Heiner (Sigurd), Bjarne Meisel (Constantin) u. a.
Altersempfehlung 14-18 Jahre
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