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Sweet Tooth

Auf Netflix: Aufwachsen in Zeiten einer Pandemie – als Hybrid aus Mensch und Hirsch. Die Adaption der gefeierten Comic-Reihe von Jeff-Lemire.

Schon wieder Apokalypse: Ein Virus hat die Menschheit heimgesucht. Stay at home lautet die Devise. Die Mitmenschen werden plötzlich als Gefahr betrachtet. Eine Heilung ist nicht in Sicht. Und dann tauchen auch noch seltsame Hybridwesen auf. Zahlreiche der neu geborenen Kinder sind Mischlingswesen und vereinen menschliche und tierische Eigenschaften. Für die Eltern ein Grauen, für die Mediziner*innen ein Rätsel. Hat dies etwas mit dem Virus zu tun? Sind die Hybridkinder vielleicht die Ursache für das Virus? Oder sind sie dessen Folge?

Während es den Menschen gelingt, im ersten Jahrzehnt der Pandemie so etwas wie eine fragile Normalität zu entwickeln (mit einigen ethisch-moralischen Fehltritten), sind die Hybriden in Gefahr und werden regelrecht gejagt. In den Wäldern hat deshalb Pubba mit dem kleinen Gus Zuflucht gesucht, der die großen Ohren eines Hirschs hat, an deren Haltung sich gut seine Gefühle ablesen lassen, ein zunehmend größer werdendes Geweih auf dem Kopf, eine außergewöhnlich gute Nase – und einen ebenso ausgeprägten Heißhunger auf Süßigkeiten aller Art: Er ist eine Naschkatze, ein „sweet tooth‟. Als Gus zehn Jahre alt ist, stirbt jedoch Pubba an einer seltsamen Krankheit. Was soll Gus nun tun? Pubbas Rat folgen und niemals den Zaun überqueren, der das sichere Waldgebiet von der Welt da draußen trennt. Oder den Aufbruch wagen. Nachdem er ein Bild seiner Mutter findet, das einen Hinweis auf deren Aufenthaltsort enthält, gibt es keinen Zweifel mehr. Gus geht.

Es ist schon verrückt, wie nah ein Ausnahmezustand wie der hier gezeigte auf einmal angesichts der gegenwärtigen Corona-Krise wirkt. All die Einschränkungen des Alltags, die verlorene Selbstverständlichkeit im Umgang mit anderen Menschen, die Vorsichtsmaßnahmen: Sie wirken nicht mehr so weit hergeholt wie dies noch vor zwei Jahren der Fall gewesen wäre. Aber nicht nur dadurch wird die Begegnung mit Gus erleichtert. Sofort weckt der Junge die Sympathie der Zuschauer*innen, zumal er auch vor Aufgaben steht, die typisch für so viele Jugendfilme sind. Er fühlt sich als Außenseiter, will dazugehören und nicht allein sein, sucht nach Anschluss und muss sich dafür in eine Welt hinauswagen, die ihm bislang vollkommen unbekannt ist – ganz konkret und metaphorisch.

Die erste der insgesamt acht Folgen fängt Gus’ ersten großen Entwicklungsschritt mit einer überraschenden Leichtigkeit ein, was auch an der beeindruckenden Weite der neuseeländischen Landschaft liegt, die hier stellvertretend für den Mittleren Westen der USA steht, und an Szenen wie jener, in der der Aufbruch von einem melancholisch-heiteren Song wie „Dirty Paws‟ von Of Monsters And Men begleitet wird. Allzu leichtfüßig allerdings geht es nicht weiter. Denn schließlich macht die Gruppe der Last Men Jagd auf die Hybriden. Und ein Arzt entdeckt einen geradezu skandalösen Forschungsbericht, der nahelegt, dass sich ein Gegenmittel gegen das Virus mit Stammzellen von Hybrid-Kindern entwickeln lässt.

Die niedlichen Aufnahmen eines Kindes mit Hirschgeweih sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die auf der gleichnamigen 40-bändigen Comic-Reihe des Kanadiers Jeff Lemire beruhende Serie wie so viele Apokalypse-Geschichten in Bereiche vorwagt, die menschlichen Abgründe ausloten. Auch wenn Gus hier ein wenig auf den Spuren von Mark Twains Tom Sawyer wandelt, ist dieses Endzeit-Road-Movie doch alles anderes als leichte Kost. Einerseits findet der Zehnjährige Unterstützung und Rückhalt, andererseits sind andere bereit, ihn zu opfern und als Forschungsmaterial zu verwenden.

Die erste Staffel bleibt in dieser Hinsicht zwar noch vergleichsweise zahm und konzentriert sich auf eine ausführliche Erzählung der Vorgeschichte, die nur den ersten Handlungsbogen der Vorlage umfasst und genau dann aufhört, wenn es eigentlich erst richtig losgeht – eine ärgerliche Produktionspolitik. Zudem wechselt die Staffel oft die Perspektive, räumt der Geschichte eines Arztes und seiner infizierten Frau viel Raum ein und blickt auch zurück auf jene Frau, die es sich zum Ziel macht, den Hybridkindern eine Zuflucht zu bieten. Dadurch verliert die Serie Gus leider ein wenig zu oft aus dem Blick, wenngleich die komplette Handlung eng mit seinem Schicksal verbunden ist.

Fragen nach familiärem Zusammenhalt, der über Blutsverwandschaften hinausgeht, nach dem Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, nach Rückhalt und bedingungsloser Anerkennung prägen die Serie. Dem Maskenbild ist es zu verdanken, dass die fantastische Figur Gus so glaubwürdig und echt wirkt und zur Identifikation einlädt. Zugleich steht sie als visuell starkes Symbol für das Anderssein und die Normalität des Andersseins – was allerdings nur auf Gus und das Hybridmädchen Wendy zutrifft: Andere Hybridkinder sehen eher aus, als ob sie einer Karnevalsparty entsprungen wären und das animatronische Biber-Menschenkind Bobby ist ein Fremdkörper, der in der Serie bislang überhaupt nicht funktioniert.

Die Serie, die immer wieder auch bekannte Bilder der Vorlage zitiert, hat durchaus das Potenzial, eine starke Coming-of-Age-Geschichte zu werden – ganz im Sinne der Comics von Lemire, der durch Autorencomics wie „Essex County‟ bekannt wurde und sehr gut darin ist, einfühlsame Dramen mit Genre-Elementen zu verknüpfen. Ob das jedoch nach diesem aufgeblähten Prolog gelingt, werden die nächsten Staffeln zeigen. Lemires Epos umfasst insgesamt fünf Handlungsbögen. Aber es besteht Hoffnung. Schließlich hat die Reise erst begonnen.

Stefan Stiletto

© Kirsty Griffin/Netflix
16+
Spielfilm

Sweet Tooth - USA 2021, Regie: Jim Mickle, Alexis Ostrander, Toa Fraser, Robyn Grace, Homevideostart: 04.06.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 8 Episoden mit einer Länge von 39 bis 53 Min. Buch: Jim Mickle, Beth Schwartz, Michael R. Perry, Justin Boyd, Haley Harris, Christina Ham, Noah Griffith, Daniel Stewart, nach der gleichnamigen Comic-Reihe von Jeff Lemire. Kamera: Aaron Morton, Dave Garbett, John Cavill. Musik: Jeff Grace. Schnitt: Michael Berenbaum, Shawn Paper. Produktion: DC Entertaiment, Netflix, Team Downey. Anbieter: Netflix. Darsteller*innen: Christian Convery (Gus), Nonso Anozie (Jepperd), Stefania LaVie Owen (Bear), Dania Ramirez (Aimee), Adeel Akhtar (Dr. Singh) u. a.

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