Beans
Gläserner Bär bei Kplus! Vor dem Hintergrund rassistischer Konflikte wächst eine indigene Zwölfjährige heran.
Der lustige Spitzname „Beans“ passt gut zu der noch kindlichen zwölfjährigen Tekahentahkhwa. Zuvorkommend bietet sie ihn auch der Schuldirektorin an, die sich in den Silben des indigenen Namens verheddert. Was sie später einmal werden will, kann Beans nicht sicher beantworten. Ärztin? Anwältin? Vielleicht ist die Bewerbung an der Highschool doch mehr der Wunsch ihrer Mutter, die eine „weiße‟ Schule für die beste Vorbereitung aufs Leben hält. Ist ein „toughen up“ wichtiger, wie Beans‘ Vater fordert? Die bevorstehenden Ereignisse lassen Beans nicht viel Zeit, ihre Antworten zu finden.
Basierend auf eigenen Kindheitserlebnissen siedelt Regisseurin Tracey Deer diese Coming-of-age-Geschichte vor dem Hintergrund der Oka-Krise von 1990 an: Das Städtchen Oka in der kanadischen Provinz Quebec plant die Erweiterung seines Golfplatzes. Davon betroffen ist auch das Gebiet der Mohawk-First Nation von Kanesatake. Um die Rodung eines Waldstücks mit Grabstätten zu verhindern, besetzen die Mohawk ihren Wald und errichten Straßensperren. Die Situation eskaliert, es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, ein Polizist stirbt. Mit der Blockade der Mercier-Brücke, die auch die Berufspendler*innen von und nach Montreal betrifft, kippt die Stimmung gegen die Mohawk endgültig. Offener Rassismus und Gewalt nehmen zu, die Polizei schaut weg, die Medien berichten einseitig. Schließlich rückt die Armee mit Panzern an, das Reservat wird abgeriegelt.
Auch Beans und ihre Familie bekommen die Anfeindungen und Angriffe zu spüren. In dieser zunehmend bedrohlichen Atmosphäre beschließt Beans, eine stärkere, zähere Version ihrer selbst zu werden. Nachhilfe nimmt sie bei der etwas älteren toughen April, der scheinbar nichts etwas anhaben kann. April nimmt das Abhärtungstraining wörtlich: „Nur wenn du keinen Schmerz spürst, kann dir niemand weh tun.“ Heimlich und nicht ohne Vergnügen probiert Beans Schimpfwörter aus. Das neue Ich bekommt einen anderen Look. Als sie von der coolen Jungs-Clique um April akzeptiert wird, erlebt sie ein neues, aber trügerisches Gefühl von Macht. Die einstudierten pubertären Posen und Sprüche sind es nicht, die Beans erwachsen werden lassen.
Tracey Deers Spielfilmdebüt wurde 2021 ins Kinderfilmprogramm Kplus der Berlinale-Sektion Generation aufgenommen. Kernthema ist die zweifache Identitätsfindung seiner Protagonistin, als weiblicher Teenager sowie als Angehörige einer indigenen Gemeinschaft. In beiden Eigenschaften ist Beans Diskriminierungen ausgesetzt, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Community, wo es zu einem (versuchten) sexuellen Übergriff kommt.
Anschaulich und intensiv inszeniert der Film die Dimension von Grenzerfahrungen und ihren immanenten zwei Seiten: Beans an der Schwelle vom Kind zur jungen Frau, befeuert durch die Ausnahmesituation während des Konflikts. Mohawks und Weiße, gleichermaßen durch errichtete wie durch missachtete Grenzen miteinander konfrontiert. Ambivalenz überall: Die Straßensperre verheißt autofreie Straßen für Beans und ihre kleine Schwester Ruby auf ihren Rädern. Die hässliche Kehrseite sind Lebensmittelknappheit und einander hinter Barrikaden belauernde Gegner*innen. Eine der eindrucksvollsten Szenen zeigt, wie sich die Mohawk-Frauen mutig zwischen die beiden Fronten stellen, vor die Gewehre im Anschlag. Einmal singen Beans, Ruby und ihre Mutter ausgelassen zu Snaps „The Power“ im Autoradio. Später ist es dieselbe Besetzung im Auto, gefangen auf der Brücke, auf dem Höhepunkt der Ausschreitungen. Die Gewalterfahrung kommt den Zuschauenden auf visueller und Tonebene sehr nah.
Beans‘ wachsende Überforderung und Wut sind so plausibel wie greifbar inszeniert. Die Wandlung vom unsicheren Kind zum zornigen Teenager spielt Kiawentiio Tarbell sehr überzeugend. Die junge Schauspielerin aus der Mohawk-Gemeinde Akwesasne hat bereits bei der Netflix-Serie „Anne with an E“ (3 Staffeln, 2017-2019) mitgewirkt, an der auch Tracey Deer beteiligt war. Deer, selbst Angehörige einer Mohawk-First Nation, hat preisgekrönte Dokumentarfilme gedreht und die erfolgreiche Dramedy-Serie „Mohawk Girls“ (5 Staffeln, 2014- 2017) mitentwickelt und inszeniert. Alles Belege für ihr formuliertes Anliegen, die kollektiven Erfahrungen indigener Menschen mit Rassismus, Hass und Ausgrenzung zu vermitteln und Verständnis zu kreieren. Das gelingt ihr auch bei „Beans“, ohne allzu sehr schwarz-weiß zu zeichnen. Auch Beispiele seltener weißer Solidarität haben Platz neben jenen von Zusammenhalt zwischen Schwestern, Familie, Freundinnen und Community. Deers gute Absicht ist in ihrer Omnipräsenz mitunter erdrückend: Hochdramatische (Abenteuerfilm-)Szenen wechseln sich ab mit Originalaufnahmen von der Blockade und den Demonstrationen. Da ist sehr viel Information zu verarbeiten.
Die Oka-Krise endete nach elf Wochen mit dem Versprechen der Regierung, das Gebiet den Mohawk zu überschreiben – was bis heute aussteht. Der Film hingegen endet mit einer selbstbewussten Protagonistin.
Ulrike Seyffarth
Beans - Kanada 2020, Regie: Tracey Deer, Festivalstart: 01.03.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 92 Min. Buch: Tracey Deer, Meredith Vuchnich. Kamera: Marie Davignon. Musik: Mario Sévigny. Schnitt: Sophie Farkas Bolla. Produktion: 11455176 Canada Inc. (EMAfilms). Verleih: offen. Darsteller*innen: Kiawentiio Tarbell („Beans“/Tekahentahkhwa), Rainbow Dickerson (Mutter Lily), Violah Beauvais (Ruby), Joel Montgrand (Vater Kania’tariio), Paulina Alexis (April) u. a.
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