The Crossing – Flucht über die Grenze
Young Audience Award 2021! Zwei Geschwisterpaare auf der Flucht im Jahr 1942, verfolgt von Handlangern des NS-Regimes.
Die Schuhe sind das Zeichen, das hatte Papa den Kindern eingebläut. Die schicken Lederslipper stehen ordentlich mitten im Zimmer bereit, als Daniel mit seiner kleinen Schwester Sarah aus der Schule kommt. Daniel weiß sofort, was das zu bedeuten hat: Sie müssen rennen. Wegrennen von zu Hause, damit die Handlanger der Nationalsozialisten sie nicht erwischen. Norwegen ist 1942 von den Nationalsozialisten besetzt und nun werden die Juden auch hier verfolgt. Der Vater musste schon voraus ins neutrale Schweden fliehen, die Kinder sollen sich in die Obhut einer befreundeten Familie begeben, um mit deren Hilfe dem Vater zu folgen. Aber auch in dieser Familie werden die Eltern abgeführt, weil sie sich der Nazipropaganda entgegen stellen. In diesem Haus leben die zehnjährige Gerda und ihr etwas älterer Bruder Otto. Für Gerda ist ganz intuitiv klar, dass sie den beiden jüdischen Geschwistern bei ihrer Flucht helfen muss. Und so brechen die vier Kinder am Weihnachtsvormittag zur Tante auf, die unweit der schwedischen Grenze lebt.
Treibende Kraft in dieser Fluchtgemeinschaft ist Gerda. Die Stärke des Films sind die vier jungen Protagonist*innen, die uns die verschiedenen Blickwinkel auf die historischen Ereignisse ermöglichen. Gerda denkt nicht eine Sekunde nach, denn nachdem ihre Eltern abgeholt wurden, führt sie deren Mission aus, die jüdischen Kinder zu retten. Sie verkörpert moralisches Gewissen, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft, auch wenn sie dadurch selbst in Gefahr geraten sollte. So ist sie schnell das Zentrum der beiden Geschwisterpaare und vor allem für die kleine Sarah eine Stütze, während deren argwöhnischer Bruder Daniel am liebsten allein losgegangen wäre. Es scheint ganz einfach zu sein. Nur eine kurze Zugfahrt zur Tante, die ihnen dann gewiss weiter über die grüne Grenze hilft. Aber „The Crossing“ wäre keine Abenteuergeschichte, wenn es nicht unvorhersehbare Schwierigkeiten gäbe und schließlich nur ein langer gefährlicher Weg quer durch die Landschaft die Rettung verheißt.
In ihrem Regiedebüt gelingt es Johanne Helgeland, das Thema Flucht und Vertreibung in eine packende Story zu verpacken und darüber wesentliche Fragen zu stellen. Macht es einen Unterschied, dass Gerda und Otto Weihnachtslieder singen, Daniel und Sarah aber nicht? Otto findet, dass „die da anders sind“ und deshalb wollte er ihnen auch nicht helfen. Er war bereits unter dem Einfluss der Nationalsozialisten bei einem Gemeinschaftsabend und ist nur mitgekommen, weil er auf Gerda aufpassen soll. Seine Figur ist am differenziertesten ausgearbeitet und zeigt einmal mehr, wie schnell es verfängt, das Getöse um Kameradschaft und „arische Rasse“. Und Otto zeigt, dass man sich natürlich eines Besseren belehren lassen kann. Als Klügster der vier Kinder trägt er schließlich zur Rettung bei.
„The Crossing“ wendet sich explizit an Kinder, um sie für Fragen zu sensibilisieren, die die Fluchtthematik bestimmen. Etwa die Hälfte gegenwärtiger Geflüchteter sind jünger als 14 Jahre. Wie soll man mit Menschen umgehen, die fliehen müssen, warum müssen sie überhaupt ihre Heimat verlassen und kann man sich dem entgegenstellen? Nach der Flüchtlingskrise 2015 begann die Produktion dieses Films, weil die Macher*innen Position beziehen und den jungen Zuschauer*innen zeigen wollten, dass es immer die Option gibt, sich für die richtige Seite zu entscheiden und Leben zu retten, indem man hilft. Ohne Gerda und Otto hätten es Daniel und Sarah wohl nicht geschafft.
Gerda erzählt diese Geschichte als alte Frau aus dem Off und als Klammer der Story werden Archivaufnahmen eingeblendet, die die Relevanz dieser historischen Ereignisse vor Augen führen – Krieg und Verfolgung zwingen immer zur Flucht. Eine traurige Realität, die bis heute ein ungelöstes Problem auf der ganzen Welt darstellt. Um das zu verdeutlichen, hätte es nicht des dramatischen Soundtracks bedurft, den der Film leider zu oft anschlägt, um sich Gehör zu verschaffen und die Emotionen hoch zu treiben. Das ist völlig überflüssig, denn wir verstehen die Bilder auch ohne drohendes Getöse. Die Hauptfluchtroute verläuft größtenteils durch den Wald und da die Kamera ohne zusätzliches künstliches Licht die Bilder einfängt, ist hier Dramatik genug geboten. Wenn die Kinder sich vor den Schergen im Unterholz verstecken, oder die Hunde hinter ihnen her sind, zeigt der Film dies in authentischen Lichtverhältnissen und zieht damit ästhetisch eine Parallele zu den Archivaufnahmen der damaligen Zeit.
Die Verfolger haben die Rechnung jedoch ohne Gerda gemacht, die immer mit einem blauen Umhang bekleidet ist und damit den Musketier Porthos verkörpert, der für Mut steht. Gerda schwört auch die anderen Kinder auf den Musketiermythos ein: Daniel ist der Stolze, Otto der Schlaue und alle kämpfen für Sarah gegen das Böse. Einer für alle, alle für einen. Das ist das Motto, mit dem die Unbestechlichen schließlich siegen werden.
Katrin Hoffmann
Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung im Kinder- und Jugendprogramm der Nordischen Filmtage 2020 verfasst.
Flukten over grensen - Norwegen 2020, Regie: Johanne Helgeland, Festivalstart: 04.11.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 95 Min. Buch: Maja Lunde, Espen Torkildsen. Kamera: John-Erling H. Fredriksen. Musik: Stein Berge Svendsen. Schnitt: Jon Endre Mørk. Produktion: Maipo Film AS. Verleih: offen. Darsteller*innen: Anna Sofie Skarholt (Gerda), Bo Lindquist-Ellingsen (Otto), Samson Steine (Daniel), Bianca Ghilardi-Hellsten (Sarah), Henrik Siger Woldene (Per) u. a.
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