Nackte Tiere
Ebenso berührender wie sehenswerter Debütfilm über fünf Jugendliche in der Provinz kurz vor dem Abitur.
Die letzte gemeinsame Zeit vor dem Abitur ist besonders und wird in Geschichten gern magisch aufgeladen. „Nackte Tiere“ ist wie ein Gegenentwurf dazu. Hier gibt es keinen letzten gemeinsamen Sommer, sondern trüben Winter. Und der ist in der kargen Provinz wenig romantisch.
Katja, Sascha, Benni, Laila und Schöller stehen in der Provinz kurz vor dem Abitur. Der Führerschein bedeutet Freiheit, die Eltern spielen keine Rolle und so sind sich die fünf gegenseitig so etwas wie Familie. Zusammen verbringen sie den letzten gemeinsamen Winter als Schüler*innen miteinander. Was danach kommt, ist für sie nicht klar. Katja ist 17, betreibt genauso wie Sascha Jiu-Jitsu, trainiert eine Kindermannschaft und scheut körperliche Auseinandersetzungen nicht. Sie scheint es zu brauchen, sich zu spüren, plant, zur Bundeswehr zu gehen – vielleicht um Grenzen gesetzt zu bekommen. Mit den anderen passt sie auf Benni auf, der sich allein in einer Wohnung einigelt, die Nähe der Gruppe braucht, sich aber auch immer wieder entzieht. Bleibt man oder geht? Sorgt man für die anderen oder sucht eine Lücke, um auszubrechen? Es scheint für alle fünf nicht einfach, eine Antwort darauf zu finden.
In ihrem Debüt erzählt die junge Filmemacherin Melanie Waelde keine große Geschichte mit klarer Handlung, sondern zeigt das Miteinander einer Gruppe Jugendlicher zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen Verletzlichkeit und Aufbegehren, zwischen „Ist mir doch alles egal‟-Haltung und Verunsicherung, wo es mit einem hingehen soll. Mit einem genauen Blick für Situationen und Stimmungen schaut Waelde auf ihre Protagonist*innen und beherrscht vor allem die Kunst, nicht alles auszusprechen und zuviel zu erklären. Warum genau die Gruppe auf Benni aufpasst, bleibt unklar. Was mit den Eltern ist, ebenso. Aber es ist auch nicht wichtig.
Waelde lässt die fünf Jugendlichen ihre Dinge in präzisen, knappen Dialogen aushandeln. Im annähernd quadratischen 6:5-Format gefilmt sind die Figuren zudem gezwungen, dicht aufeinanderzuprallen. Eindrucksvoll ist vor allem Marie Tragousti als Katja, die kraftvoll, ungebremst und ungebunden durchs Leben zu gehen scheint, doch zugleich immer wieder Kontakt und Auseinandersetzung mit den anderen sucht. Michelangelo Fortuzzi („Druck“) in seiner weichen Verletzlichkeit als Benni ist ein starker Gegenpart. „Du rennst vor Sachen weg, ich geh' erst gar nicht hin‟, sagt er Katja einmal. Das so raue, im Kern dann doch zärtliche Miteinander der Gruppe klingt nach und macht „Nackte Tiere“ so berührend wie sehenswert. Und es macht neugierig darauf, was man von Melanie Waelde noch zu sehen bekommen wird.
Kirsten Loose
Nackte Tiere - Deutschland 2020, Regie: Melanie Waelde, Kinostart: 17.09.2020, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 92 Min. Buch: Melanie Waelde. Kamera: Fion Mutert. Schnitt: Jessica Schnellert. Produktion: Czar Film. Verleih: déjà-vu film. Darsteller*innen: Marie Tragousti (Katja), Sammy Scheuritzel (Sascha), Michelangelo Fortuzzi (Benni), Luna Schaller (Laila), Paul Michael Stiehler (Schöller) u. a.
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