Yalda
Eine junge Frau wird angeklagt, ihren Mann ermordet zu haben. Vor laufenden Kameras in einer Reality Show im Fernsehen.
Zwischen 2007 und 2018 wurde im Iran während des heiligen Monats Ramadan die tägliche TV-Talkshow „Flitterwochen“ ausgestrahlt, die sich großer Beliebtheit erfreute und die sich der iranische Filmemacher Massoud Bakhshi zur Vorlage für sein Kammerspiel über Todesstrafe, Schuld und Vergebung genommen hat. In seinem Film heißt diese Reality-Show satirisch gebrochen „Die Freude der Vergebung“, wobei das Grundprinzip, die Neugier und Sensationslust des Publikums zu bedienen, beibehalten wurde. Und das angesichts des Umstands, dass in dieser Show die junge Protagonistin Maryam, die wegen Mordes an ihrem 40 Jahre älteren Ehemann zum Tode verurteilt wurde, nun in aller Öffentlichkeit um ihr Leben kämpft. Sie muss die Tochter des Ermordeten um Vergebung bitten und ist auf die Gunst des Publikums angewiesen, das mit seinem Votum die Höhe des „Blutpreises“ an die Familie des Opfers mitbestimmt, wenn die Hinrichtung abgewendet werden kann.
Die Show wird am Yalda-Feiertag live ausgestrahlt, der persischen Wintersonnenwende, an dem besonders viele Familien in Feierstimmung behaglich vor dem Fernseher sitzen. Schließlich geht es auch im iranischen Fernsehen neben der Religion um Quote, allen religiösen Erwägungen zum Trotz. Maryam wird beschuldigt, ihren reichen Ehemann ermordet zu haben, der das junge Mädchen vom Land, das in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und die Tochter seines ehemaligen Fahrers ist, in einer sogenannten befristeten Ehe geheiratet hatte. Die Ehefrau hat bei einem solchen Ehevertrag keinen Anspruch auf das Erbe ihres Mannes und kann nach Ablauf des Vertrags bestenfalls mit einer kleinen Geldsumme rechnen. Maryams Ehemann hatte das Mädchen letztlich als Arbeitssklavin und als sexuelles Freiwild behandelt. Diese Hintergründe der Tat klingen in der Show zwar an, doch letztlich nimmt es keine der Beteiligten mit der Wahrheit genau, weder die Angeklagte noch die Mutter der Beschuldigten, die sehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist und ihre Tochter stark beeinflusst. Mona, die Tochter des Ermordeten, gibt sich unnahbar und abweisend, hält sich als Mitglied der reichen Klasse für etwas Besseres, ist letzten Endes als Frau aber genauso ein Opfer des Systems. Denn grundsätzlich wird den Frauen weniger Glaubwürdigkeit eingeräumt als den Männern, deren Aussage immer doppelt so viel wiegt wie das der Frauen. Und Vergewaltigung in der Ehe gibt es der Gesetzeslage nach gar nicht, erst recht nicht für Maryam, die der herrschenden Klasse, der ihr Ehemann auf Zeit angehört, hilflos ausgeliefert ist. Gerechtigkeit verkommt in einem solchen System zur hohlen Phrase.
Der zweite Spielfilm von Massoud Bakhshi (Jahrgang 1972) nach seinem Debüt „Eine respektable Familie“ (2012) ließ sich finanziell nur über ausländische Partner*innen realisieren, darunter auch Deutschland. In erster Linie übt er harsche Kritik am streng patriarchalischen Gesellschaftssystem im Iran und an der Todesstrafe, wobei es immerhin die aufstrebende Vergebungsbewegung ist, die dort Debatten über die Todesstrafe in Gang gesetzt hat. Im Jahr 2019 beispielsweise wurden mehr als 280 Menschen hingerichtet, darunter mindestens 15 Frauen. Andererseits erhielten etwa 374 wegen Mordes zum Tod Verurteilte von den Familien der Mordopfer Vergebung, weit mehr als in den Vorjahren. Es tut sich also etwas im Iran. Und obwohl das Kammerspiel um wahrlich existenzielle Fragen kreist, lockern kleine Nebenhandlungen die Geschichte immer wieder auf, wie etwa ein einfacher Angestellter, der den Menschen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einen Tee anbietet.
Unabhängig von den Zuständen im Iran selbst stellt der Film die grundsätzliche Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die auf keinen Fall von den Medien beantwortet werden darf, zumal diese ureigene Interessen verfolgen. Zugleich verweist er auf Strukturen, die nicht allein auf den Iran beschränkt sind, von einer de facto Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen in vielen weiteren Ländern über Unterhaltungsshows, die auf Kosten einzelner oder einer Minderheit gehen, bis hin zu allgemein menschlichen Schwächen wie Hass, Selbstgerechtigkeit und nur auf den eigenen Vorteil bedachten Egoismus.
Seine deutsche Erstaufführung hatte der kurz zuvor auf dem Sundance-Filmfestival 2020 mit dem Hauptpreis für internationale Spielfilme ausgezeichnete Film auf der Berlinale in der Sektion Generation 14plus.
Holger Twele
Yalda – A Night For Forgiveness - Frankreich, Deutschland, Schweiz, Luxemburg, Libanon, Iran 2019, Regie: Massoud Bakhshi, Kinostart: 27.08.2020, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 89 Min. Buch: Massoud Bakhshi. Kamera: Julian Atanassov. Schnitt: Jacques Comets. Produktion: NiKo Film, Close Up Films. Verleih: Little Dream Pictures. Darsteller*innen: Sadaf Asgari (Maryam), Behnaz Jafari (Mona), Fereshte Sadre Orafaee (Mutter), Forough Ghojabagli (Keshavarz), Arman Darvish (Moderator) u. a.
Altersempfehlung 14-18 Jahre
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