Sommerkrieg
Entdeckt beim DOK.fest München: In zweiwöchigen Feriencamps werden Kinder in der Ukraine zu Patriot*innen „umerzogen‟.
Die Realität ist immer komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Das gilt umso mehr, wenn ideologische Scheuklappen die freie Sicht behindern. Eigentlich eine Binsenweisheit, an die uns Dokumentarfilme wie „Sommerkrieg“ von Moritz Schulz jedoch stets auf Neue und oft in überraschender Weise zu erinnern wissen. Der Politikwissenschaftler und Journalist drehte seinen Film im Rahmen eines Zweitstudiums an der Filmakademie Ludwigsburg in einem der ukrainischen Ferienlager, die vom ultrarechten Azov-Regiment organisiert und vom Staat sogar finanziell gefördert werden. Ziel dieser in der Öffentlichkeit umstrittenen Lager ist es, junge Menschen wie etwa die zwölfjährige Jasmin oder den gleichaltrigen Jastrip, die Protagonist*innen des Films, binnen zwei Wochen in einem paramilitärischen Drill zu waschechten jungen Patriot*innen umzuformen. Sie sollen dort lernen, oft bis zur physischen und psychischen Erschöpfung zu kämpfen, mit einem Gewehr umzugehen, laut zu schreien, Befehle ohne Widerrede zu befolgen und später selbst Befehle zu erteilen. Auf diese Weise soll eine neue Generation in den „richtigen Traditionen“ erzogen werden, zu „echten Führern mit den richtigen Ideen“. Vor dem Hintergrund der schwelenden Konflikte mit prorussischen Separatist*innen in der Ostukraine nach den Euromaidan-Protesten 2013/14 bedeutet „richtig“ im Sinne der federführenden Azov-Organisation, für die Ukraine zu kämpfen und zu sterben bereit sein, wobei niemand den Ruhm und die Ehre des Vaterlandes beschmutzen darf. Kritik ist also nicht erlaubt und auch das erklärte Feindbild Moskau wird vor laufender Kamera kurz benannt, wobei diese spontane Äußerung von den Mädchen dann aber selbst umgehend zensiert wird.
Ein westliches Publikum, das wie der Regisseur zunächst die Hoffnung hatte, die Ukraine werde nach der Revolution in ein liberales Europa eingebettet sein, mag von dieser systematischen Indoktrination junger Menschen hin zu Hass und Krieg entsetzt sein. Schließlich veränderte dieses Trainingslager sie in nur zwei Wochen so stark, dass einige Eltern ihre Kinder danach kaum wiedererkannten. Das Procedere ist keine ukrainische Erfindung und gleicht sich überall auf der Welt. Zur „Umerziehung“ wird den Menschen zunächst der eigene Wille gebrochen und die Freiheitsrechte nach klaren Verhaltensregeln extrem eingeschränkt. Mit den ebenfalls umstrittenen amerikanischen Bootcamps für straffällig gewordene Jugendliche, die damit einer Gefängnisstrafe entgehen wollen, lassen sich diese Ferienlager dennoch nicht unmittelbar vergleichen, zumal die Teilnahme hier offensichtlich aus freien Stücken erfolgt und neben dem extremen Drill auch der Spaß nicht völlig auf der Strecke bleibt. Die Kamera wird zur stillen Beobachterin dieser ambivalenten Ereignisse im Tagesablauf der Teilnehmenden, überlässt die Wertung des Gesehenen aber dem Publikum. Sie bleibt sehr dicht an den Kindern dran und lässt nur manchmal auch die überwiegend jugendlichen Ausbilder selbst zu Wort kommen. Zur Halbzeit des Camps dürfen die Eltern ihre Kinder erstmals besuchen. Einige von ihnen müssen getröstet werden, denn sie wollen unter Tränen unbedingt nach Hause. Psychisch subtil und politisch völlig unverdächtig werden sie privat unter Druck gesetzt, denn „die, die bleiben, sind sehr stark“. Und wer will im Alter von zehn oder zwölf Jahren schon ein Schwächling oder Weichei sein?
Gerade in solchen Momenten entwickelt der Film seine besondere Stärke, denn die Realität erweist sich auch in diesem Fall weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Es sind eben keineswegs nur die Kinder von überzeugten Nationalist*innen und Kriegstreiber*innen, die ihre Sprösslinge dazu „zwingen“, ein solches Sommercamp zu besuchen. Die Filmemacher*innen haben vor und nach dem Camp-Aufenthalt die Familien von Jasmin und Jastrip besucht, um herauszufinden, warum sie sich dem ihnen vorher bekannt gewesenen Drill aussetzen wollen und welche Spuren diese Erlebnisse bei ihnen hinterlassen haben. Während Jastrip zuhause nur wenig Anerkennung erhält und zumindest im Camp so etwas wie Halt und Führung erfährt, kommt Jasmin aus einem sehr liberalen und liebevollen Elternhaus. Als Linkshänder wurde der Vater einst dazu gezwungen, rechtshändig zu schreiben. Sein eigenes Kind soll daher immer selbst entscheiden können, was es möchte. Daher unterstützt er ihren Wunsch, am Camp teilzunehmen. Nach ihrer Rückkehr will sie am liebsten in den Krieg ziehen, worauf der Vater ihr ohne jede Spur eines Vorwurfs erklärt, dass der Krieg „ganze Generationen zerstört“. Das lässt immerhin hoffen, denn die Eltern und das soziale Umfeld spielen offensichtlich eine entscheidende Rolle, wie sich die erfahrene Indoktrination bei den Kindern auswirkt – und das gilt nicht nur für die Ukraine, sondern genauso für Deutschland oder Österreich. Zum Vergleich empfohlen sei daher der Dokumentarfilm „Kleine Germanen“ (Mohammad Farokhmanesh, Frank Geiger, 2018) über Kinder von Eltern, die selbst überzeugte Rechtsextreme sind.
Holger Twele
Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung von „Sommerkrieg“ im Rahmen des DOK.fest München 2020 verfasst.
Sommerkrieg - Deutschland, Ukraine 2019, Regie: Moritz Schulz, Festivalstart: 07.05.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 78 Min. Buch: Tetiana Trofusha, Moritz Schulz. Kamera: Christoph Bokisch. Musik: Hannes Bieber. Schnitt: Wolfgang Purkhauser. Produktion: Filmakademie Baden-Württemberg (Louis Wick, Nils Gustenhofen). Verleih: Filmakademie Baden-Württemberg. Mitwirkende: Jasmin und Jastrip, deren Familien sowie die Teilnehmer*innen des Camps
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