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Acasă, My Home

Entdeckt beim DOK.fest München: Beeindruckender Dokumentarfilm über eine Familie, die aus einer abgeschiedenen Region in die Stadt umsiedeln muss.

Seit 18 Jahren lebt Gică Enache mit seiner Frau und den neun Kindern in der freien Natur. Ihre Behausung: ein Zelt, das sie und ihre Hunde, Katzen, Hühner, Tauben und Schweine gemeinsam bewohnen. Gică arbeitete früher als chemisch-technischer Assistent, bevor er sich im Niemandsland Văcăreşti, mitten in Rumäniens Hauptstadt Bukarest, ansiedelte. Nun sollen die Enaches dieses Gebiet verlassen.

Zur Erklärung: Zu Ceauşescu-Zeiten wurde dort ein über 180 Hektar großes Ausgleichsbecken für die häufigen Überschwemmungen in Bukarest errichtet, aber nie genutzt. In den letzten 30 Jahren hat sich die Natur dieses Gelände zurückerobert. Auf der riesigen Fläche entstand eine Landschaft mit vielen Seen, in dem mehr als 200, meist geschützte, Tierarten leben und seltene Pflanzen wachsen. 2014 erklärte das Bukarester Stadtparlament Văcăreşti zum Naturschutzgebiet, das zum größten urbanen Feuchtbiotop Europas entwickelt werden soll.

Ungefähr in dieser Zeit setzt der Dokumentarfilm des rumänischen Journalisten und Investigativreporters Radu Ciorniciuc ein. Noch wohnen die Enaches mehr oder weniger ungestört in Văcăreşti. Sie leben von dem, was hier im Gelände wächst, von ihren Haustieren, von Fischen, die sie im See fangen und in der Stadt verkaufen. Die Kinder wachsen in und mit der Natur auf, genießen ihre Freiheit und helfen mit, die Familie zu ernähren. Besonders tut sich hierbei der älteste Sohn Vali hervor, ein begnadeter Fischer und zugleich Betreuer für die jüngeren Brüder. So glücklich, wie das alles klingen mag, ist das Leben der Enache-Kinder aber nicht. Die hygienischen Bedingungen in dem Zelt, in dem alle sommers wie winters hausen, sind katastrophal, eine Schule besuchen die Kinder nicht und sie dürfen sich auch nicht in der angrenzenden Wohnsiedlung blicken lassen – aus Furcht vor der Polizei und dem Jugendamt. Und dann trifft sich eines Tages der rumänische Ministerpräsident Cioloş mit unzähligen Reporter*innen- und Filmteams in Văcăreşti, um das Niemandsland zum Naturschutzgebiet zu erklären. Gică steht dabei, wird als „Hüter der Gegend“ gelobt und es wird ihm versichert, dass die Behörde mit ihm zusammenarbeiten werde. Später wird ihm sogar versprochen, dass er im Naturpark als Ranger arbeiten könne.

Doch es kommt anders. Immer öfter erscheinen Polizei und Vertreter*innen des Jugendamts auf dem Gelände, immer mehr Verbote werden ausgesprochen, die Kinder für die Schulbehörde registriert. Bis dann schließlich die Familie zwangsgeräumt und ihr eine Wohnung mitten in Bukarest zugewiesen wird. Ein neues Leben beginnt, das bestimmt ist durch Autoverkehr, Lärm, Gedränge und viele Verbote. Im Park darf nicht geangelt und im Haus nicht getobt werden, der Müll wird nach komplizierten Regeln getrennt. Ihren Lebensunterhalt verdient sich jetzt die Familie mit dem Sammeln von Plastikflaschen und Altpapier. Gică kommt nur schwer mit der Situation zurecht und wird von Tag zu Tag apathischer. Das ist die eine Ebene. Doch das zivilisierte Leben hat auch seine guten Seiten. Die Kinder gehen zum ersten Mal zum Friseur, probieren Dusche, WC und Waschmaschine aus, lernen zusammen in einer Sonderklasse Lesen, Schreiben und Rechnen. Da ist Vali bereits 16 Jahre alt. Mit 18 gründet er zusammen mit seiner 15-jährigen Freundin eine Familie und zieht in eine eigene Wohnung. Das Schicksal will es, dass er anstelle von Gică nun als Ranger in Văcăreşti arbeitet. Und während Vali seinem Vater schwere Vorwürfe macht, dass er in der Wildnis seine Kinder vernachlässigt und ihnen Bildungschancen genommen habe, träumt sich sein jüngerer Bruder Rică zurück in das Leben in der freien Natur.

Atemberaubend, weil gerade für unseren „zivilisierten Großstadt-Blick“ oftmals sehr fremd und zweischneidig, ist die Geschichte der Enache-Familie, beeindruckend die Bilder, die Radu Ciornicius zusammen mit Mircea Topoleanu für sein Langfilmdebüt gefunden hat. Sie haben mit ihrer Kamera die schönen, poetischen Seiten dieser unberührten Naturlandschaft eingefangen, wie sie aber auch die schmutzigen und armseligen Seiten dieses freien Lebens abbilden. Ebenso zeigen sie die zwei konträren Seiten im Leben der Enaches nach der Zwangsumsiedlung, die Schwierigkeiten, sich an den geregelten, hektischen und technisierten Alltag zu gewöhnen, aber auch den Wert von Bildung und sozialer Absicherung. Diese genaue, differenzierte Beobachtung, die zum Nachdenken und Infrage-Stellen eigener Lebensentwürfe anregt, macht diesen Film so besonders.

Barbara Felsmann

 

Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung von „Acasă, My Homeim Rahmen des DOK.fest München 2020 verfasst.

© DOK.fest München/Acasă, My Home
14+
Dokumentarfilm

Acasă, My Home - Finnland, Deutschland, Rumänien 2020, Regie: Radu Ciorniciuc, Festivalstart: 07.05.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 84 Min. Buch: Lina Vdovii, Radu Ciorniciuc. Kamera: Mircea Topoleanu, Radu Ciorniciuc. Musik: Gaute, Codrin Lazar, Yari. Schnitt: Andrei Gorgan. Produktion: Monica Lăzurean-Gorgan. Verleih: offen

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