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Scheme Birds

Entdeckt beim DOK.fest München: Eine beeindruckende Langzeitdokumentation über eine junge Frau am Rande der Gesellschaft.

„Fuck the Queen, fuck the Pope! ACAB – All cops are bastards“ – das sind so die Lieblingssprüche von Gemma und ihren Freund*innen Pat, JP, Scott und Amy. 1997 wurde sie im Viertel Jerviston im schottischen Motherwell geboren. Genau in jenem Jahr, als das letzte Stahlwerk der Stadt, die bis dahin als der bedeutendste Standort der Stahlindustrie in Schottland galt, abgerissen wurde. Bis heute hat sich Motherwell davon nicht erholt. Hier gibt es die höchste Arbeitslosenquote in Schottland, Perspektivlosigkeit hat sich unter den Jugendlichen breitgemacht, Alkohol, Drogen und Gewalt gehören zu ihrem Alltag.

Auch zu dem von Gemma. Seit ihrer frühesten Kindheit lebt sie bei ihrem Großvater Joseph, den sie Papa nennt. Ihre Mutter kam wegen Drogendelikten ins Gefängnis, als Gemma noch ein Baby war, der Vater hat sich davongemacht. Joseph züchtet in seiner Freizeit Brieftauben und bringt seiner Enkelin Boxen bei, um sie so von der Straße zu holen. Gemma fühlt ähnlich wie die Tauben ihres Großvaters, obwohl sie noch nicht so weit in der Welt herumgekommen ist. Doch wie diese Vögel immer wieder nach Hause zurückkehren, hat auch sie eine enge Bindung zu ihrem Stadtteil Jerviston. Hier will sie bleiben, hier will sie dazugehören. Zum vorbestraften Pat, in den sie sich verliebt hat, zu ihrer Clique. An die Schlägereien, die hier an der Tagesordnung sind, hat sich Gemma zwangsläufig gewöhnt, sowie an die ständige Sauferei, den Drogenkonsum und die kleinkriminellen Geschichten ihrer Freund*innen. Doch dann ist Gemma schwanger, zieht mit Pat in eine kleine Wohnung in einem Hochhaus, in der Hoffnung auf ein glückliches Familienleben. Als ihr Sohn Liam geboren wird, will sie ihm die Geborgenheit geben, die sie selbst von ihrer Mutter nie erfahren hat. Doch das Glück währt nicht lange. Schon bald fühlt sich Pat in seiner Vaterrolle überfordert und verlässt Gemma. Als dann auch noch ihr Freund JP bei einer Schlägerei, an der auch Scott beteiligt ist, lebensgefährlich verletzt und nach über vier Monaten Krankenhausaufenthalt querschnittsgelähmt entlassen wird, ist sich Gemma im Klaren, dass sich grundlegend etwas in ihrem Leben verändern muss. Einige, wenige der Brieftauben, weiß sie, kehren nicht in ihre Heimat zurück, sondern suchen in der Fremde ihren eigenen Weg.

Ob und wie es Jugendlichen möglich ist, sich aus prekären, perspektivlosen Verhältnissen zu befreien und ihrem Leben einen Sinn zu geben, ist die Fragestellung in dieser Langzeitdokumentation der Drehbuchautorin, Produzentin und Regisseurin Ellen Fiske sowie der Kamerafrau Ellinor Hallin, die hier auch die Ko-Regie übernommen hat. Es ist die dritte Zusammenarbeit der beiden schwedischen Filmemacherinnen, die für ihren Film die junge Protagonistin Gemma seit deren 16. Lebensjahr begleitet und zu ihr eine unglaubliche Nähe gefunden haben. Bemerkenswert ist, wie offen, ehrlich und natürlich Gemma in diesen 90 Minuten agiert, wie sie – ohne Ängste und Vorbehalte – die beiden Regisseurinnen in ihren Alltag blicken lässt. Sicher hat dabei geholfen, dass Ellinor Hallin einfach nur mit der Handkamera unterwegs war und so die Aufnahmesituation schnell vergessen werden konnte.

Entstanden ist das Porträt eines starken wie unsicheren und zerbrechlichen Mädchens, dessen Suche nach einem erfüllten Leben immer wieder von Rückschlägen begleitet wird. Dabei lassen die Filmemacherinnen schonungslos sichtbar werden, wie verloren Jugendliche am Rande der Gesellschaft sind, wie sich ihre Chancenlosigkeit und emotionale Vernachlässigung oftmals bereits in der Kindheit manifestiert. Sie dokumentieren aber auch, dass es in dieser benachteiligten, durch alltägliche Gewalterfahrungen geprägten Welt auch Geborgenheit gibt. Gemma findet sie bei ihrem rauen, aber herzensguten Großvater, der sich von klein auf um sie gekümmert und letztendlich auch die Grundlage dafür geschaffen hat, dass seine Enkelin die Kraft findet, sich aus den desolaten Verhältnissen in ihrer Heimat zu befreien und wegzugehen. Damit ist „Scheme Birds“ ein Film, der bei aller gezeigten Düsternis für individuelles Gelingen von Leben steht.

Barbara Felsmann

 

Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung von „Scheme Birdsim Rahmen des DOK.fest München 2020 verfasst.

 

© DOK.fest München/Scheme Birds
16+
Dokumentarfilm

Scheme Birds - Schweden, Großbritannien 2018, Regie: Ellen Fiske, Ellinor Hallin, Festivalstart: 07.05.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 87 Min. Buch: Ellen Fiske and Ellinor Hallin. Kamera: Ellinor Hallin. Musik: Charlie Jefferson, Loki, Jim Sutherland, Christoffer Meier. Schnitt: Hanna Lejonqvist. Produktion: Mario Adamson, Ruth Reid. Verleih: offen

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