I Am Not Okay With This
Auf Netflix: Ein wilder Genremix zwischen High-School-Komödie, Superheldenfilm, Teen-Horror und Coming-Out-Geschichte.
„Dear Diary, go fuck yourself.‟ Es beginnt mit der kompletten Verweigerung, mit einer wütenden Ablehnung, mit unverblümter Wortwahl – und mit einer Jugendlichen, die am ganzen Körper blutverschmiert eine Straße entlangläuft. Sie sei langweilig und in keinster Weise besonders, behauptet die 17-jährige Sydney in einem Voice-Over-Kommentar. Doch auch wenn die schockierenden Bilder nur von kurzer Dauer sind und die Szenerie schnell ins High-School-Setting einer US-amerikanischen Kleinstadt wechselt, bleibt ein mulmiges Gefühl. Zumal auch The Kinks in dem Refrain der begleitenden Filmmusik „I’m not like everybody else‟ singen und damit der Protagonistin widersprechen. Ein Omen.
Sophia Lillis, die sich einen Namen durch ihre Rolle als junge Beverly in den beiden „Es‟-Verfilmungen von Andy Muschetti (2017 und 2019) gemacht hat, spielt die Protagonistin Sydney und führt zweigleisig durch den Film. Auf der Bildebene als betont unscheinbares Mauerblümchen im Tomboy-Look, das mit Pickeln auf dem Oberschenkel zu kämpfen hat und nicht über den Suizid des Vaters vor etwa einem Jahr hinweg kommt, auf der Tonebene als zynische Kommentatorin und innere Stimme der Heldin, die den Widerspruch zwischen Denken und Handeln auf überaus komische Art immerzu deutlich macht. Diese direkten Einblicke in die Gedankenwelt von Sydney ziehen auch das Publikum in die Geschichte hinein. So direkt, so ehrlich wirkt diese Teenagerin, dass man ihr gerne folgt. Und die Sorgen, die sie plagen, kommen unangenehm bekannt vor. Als Neue in der Stadt zählt Sydney zu den Außenseiter*innen, mit den Hübschen kann sie es nicht aufnehmen, sie ist genervt von ihrer fordernden, oft abwesenden Mutter – und eifersüchtig, als ihre beste Freundin Dina ihr offenbart, dass sie jetzt mit Brad, dem arroganten Footballstar der Schule, zusammen ist. Dass Brad auf einmal heftiges Nasenbluten bekommt, als Sydney sich über ihn ärgert, verbucht sie noch als Zufall. Aber in Wirklichkeit ahnt sie schon, dass ihre Gedanken dafür die Ursache waren. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit Sydney, die mit ihrer Willenskraft sogar Bäume ausreißen kann. Während sie sich auf Dina als Freundin nicht mehr verlassen kann, findet sie bei dem nerdigen Nachbarn Stanley Unterstützung.
Eine kunterbunte Genre-Wundertüte ist die Serien-Verfilmung des im Jahr 2018 erschienenen gleichnamigen Independent-Comics von Charles Forsman geworden, aus dessen Feder bereits die Vorlage für die ebenfalls von Netflix produzierte Serie „The End of the F***ing World‟ (ab 2017) stammte. Mal kommt sie als bitterböse High-School-Komödie daher, mal als Coming-Out-Geschichte, mal verweist sie auf Superheldenstoffe – besonders Wolverine hat es den Filmemacher*innen sichtlich angetan –, mal wird sie zum Caper-Movie, mal zum Teen-Horrorfilm auf den Spuren von Brian De Palmas „Carrie‟-Adaption (1976), der schon einmal davon erzählt hat, wie eine Außenseiterin in der Pubertät sich brachial Gehör verschafft und sich von ihren seelischen Fesseln befreit. All dies passt erstaunlich gut zusammen. Während Texte aus der Comic-Vorlage teils im Wortlaut Eingang in die Serie gefunden haben, hat Regisseur Jonathan Entwistle glücklicherweise nicht versucht, den Cartoon-Stil der Vorlage zu übernehmen. Stattdessen sind es die zwischenmenschlichen Momente, die durch ihre Komik und die feinen Beobachtungen überzeugen. In überraschenden und warmherzigen Szenen zwischen Sydney und ihrem jüngeren Bruder verschieben sich immer wieder die Rollen zwischen großer Schwester und Schützling, unbeholfen versucht Sydney unterdessen, Dina ihre Zuneigung zu gestehen und sie zugleich geheim zu halten.
Wenngleich „I Am Not Okay With This‟ bisweilen durch den Voice-Over-Kommentar und die Erinnerungsrückblenden überdeutlich inszeniert ist – was gerade durch die Laufzeit der gesamten Staffel von gerade einmal 156 Minuten etwas übertrieben scheint –, so besticht die Serie doch durch ihren Humor und ihre sympathisch-schrägen Figuren, die mehr als bloße Abziehbilder sind. Sparsam fließen Sydneys übersinnliche Fähigkeiten in die Handlung ein und rücken die Geschichte in ein fantastisches Genre, während lange Passagen aber auch gänzlich dem klassischen Teenager-High-School-Film verhaftet bleiben und in einer Episode gar ein Hauch von „Breakfast Club‟ aufblitzt. Zwischen dem Unbehagen am eigenen Körper, von telekinetischen Fähigkeiten bis zu Pickeln, und den Unsicherheiten der Liebe ist hier vieles vertreten, was Jugendgeschichten relevant und reizvoll macht. Auch wenn das Ende ziemlich ruppig daherkommt und nach einer Weiterführung der Geschichte schreit, ist „I Am Not Okay With This‟ mehr als okay geworden und dank der tollen Darsteller*innen und Bildeinfälle ziemlich kurzweilig und unterhaltsam.
Stefan Stiletto
Die erste Staffel von „I Am Not Okay With This‟ ist seit 26.02.2020 über Netflix abrufbar.
I Am Not Okay With This - USA 2020, Regie: Jonathan Entwistle, Homevideostart: 26.02.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 156 Min. Buch: Jonathan Entwistle, Christy Hall, nach dem gleichnamigen Comic von Charles Forsman. Kamera: Justin Brown. Musik: Graham Coxon. Schnitt: Yana Gorskaya, Dane McMaster, Varun Viswanath. Produktion: Buddy Enrightm, Rand Geiger. Anbieter: Netflix. Darsteller*innen: Sophia Lillis (Sydney), Wyatt Oleff (Stanley), Sofia Bryant (Dina), Kathleen Rose Perkins (Sydneys Mutter), Richard Ellis (Brad) u. a.
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