Notre-Dame du Nil
Entdeckt bei der Berlinale (14plus): Das politisch brisante Drama erzählt anhand einer Mädchenclique über den Ruanda-Konflikt.
Ruanda im Jahr 1973: Hoch oben in den abgeschiedenen Bergen, an einer der Quellen des Nils, steht eine schwarze Marienfigur, die von den Nonnen und den zwanzig Schülerinnen eines katholischen Mädcheninternat verehrt und gepflegt wird. Die Töchter von Politikern, Militärs und Geschäftsleuten wachsen in dieser ländlichen und friedlichen Idylle wohlbehütet auf, verbringen ihre Tage ausgelassen mit Lernen, Beten und den anfallenden Arbeiten in Haus und Garten. Selbst in ihren kleinen Träumereien und unschuldigen Streichen unterscheiden sich Angehörige der Hutu oder der Tutsi, der beiden großen Volksgruppen in Ruanda, nicht wesentlich von einander. Ganz abgeschieden von der Außenwelt ist das Internat dennoch nicht. Die politischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Staat sickern in den Mikrokosmos der Schule ein, vergiften die harmonische Atmosphäre, führen zu Streit und Missgunst, Lügen und Egoismus. Monsieur de Fontenaille, ein älterer weißer Siedler in einer nahegelegenen Villa, der sich seltsam gegenüber den Mädchen verhält, einige von ihnen fotografiert und ihnen einen Floh ins Ohr setzt, sorgt zusätzlich für Irritationen. Häufig sind es Kleinigkeiten, die den Zusammenhalt der Mädchen gefährden. Die Marienfigur ist nur schwarz angemalt und eigentlich weiß, ihre Nase zudem eine typische Tutsi-Nase und keine der Hutu-Mehrheit. Insbesondere die Freundschaft zwischen Virginia, einer „Quoten“-Tutsi an der Schule und zugleich Alter ego der Romanautorin, Gloriosa, einem Hutu-Mädchen aus so einflussreichem wie reichem Elternhaus, und Modesta, durch ihre Herkunft halb Hutu, halb Tutsi, bricht auseinander. Gloriosa hat zudem ein Gerücht in die Welt gesetzt, das bald schon eine Welle der Gewalt in Gang setzt, die nicht mehr zu stoppen ist.
Diese Ereignisse weisen voraus auf den Genozid in Ruanda, dem 1994 etwa eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu zum Opfer gefallen sind. Alte Schwarzweiß-Fotografien im Haus des Siedlers machen im Film unmissverständlich deutlich, wo die Wurzeln dieses Konflikts liegen. Es waren deutsche Siedler und Forscher, die zwischen 1898 und 1918 als Kolonialherren nach Ruanda kamen und die dort lebenden Menschen nach ihrer Rassenideologie einteilten. Allein aufgrund der sozialen Stellung als Viehzüchter*innen und einigen körperlichen Merkmalen wurde die Bevölkerung aufgeteilt in Tutsi, die als höherwertig erachtet wurden und an der Macht teilhaben durften, sowie den ärmeren Hutu. Die Belgier übernahmen diese willkürliche biologische Einteilung nach dem Ersten Weltkrieg, bis die katholischen Missionare, die damals zahlreiche Missionsschulen gründeten, sich in den 1950er-Jahren plötzlich mehr den unterprivilegierten Hutu zuwandten. Diese rissen dann 1959 als neue Bildungselite die politische Macht an sich.
„Notre-Dame du Nil“ ist der dritte Spielfilm des in Frankreich lebenden Schriftstellers und Filmemachers Atiq Rahimi, der in Kabul geboren wurde. Er realisierte ihn nach seinen beiden Kriegsdramen über Afghanistan „Terre et cendres“ („Erde und Asche‟, 2004) und „Syngué Sabour“ („Stein der Geduld‟, 2013), die er nach seinen eigenen Romanen drehte. Zugleich ist es seine erste Fremdadaption nach dem autobiografisch angehauchten Roman „Die heilige Jungfrau vom Nil“ der ruandischen Schriftstellerin Scholastique Mukasonga. Rahimi war zuvor noch nie in Ruanda gewesen, wobei es außer Frage stand, das die Verfilmung des Romans nur an Originalschauplätzen gedreht werden durfte. Er entdeckte zudem Parallelen zwischen Ruanda und seiner Heimat Afghanistan, beispielsweise in der engen Beziehung zwischen heiligem Glauben und Gewalt. Es überraschte ihn dann aber doch, wie freundlich und friedvoll ihm die Menschen heute in Ruanda begegneten.
Die politische Brisanz gerade vor dem Hintergrund aktueller Mythenbildungen und populistischer Strömungen weltweit steht außer Zweifel. Was den Film aber wirklich sehenswert macht, sind seine einzigartigen Bilder, die dem Kameramann Thierry Arbogast mit zu verdanken sind. In der Eröffnungssequenz ist ein badendes junges Mädchen zu sehen, das etwas klischeehaft vollkommene Unschuld inmitten einer harmonischen Natur verkörpert. Bevor sich diese Bilder am Ende in einen wahren Albtraum verkehren, sind die Schülerinnen von ihrer allerbesten Seite und dank präziser Lichtsetzung in ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit mit voller Wertschätzung und Gleichheit gefilmt. Die symbolkräftigen expressiven Bilder in zarten Halbtönen sind zudem exakt auf das natürliche Licht und die vorherrschenden Farben des Landes abgestimmt und verstärken später den Kontrast zu den Bildern aufbrechender, hemmungsloser Gewalt. Mit diesem Wechselbad an Bildern und Stimmungen fühlt sich der Film nicht zuletzt auch der Filmgeschichte verbunden, von Jean Vigos „Betragen ungenügend“ (1933) mit der Kissenschlacht der Mädchen im Schlafraum bis zu „Elephant“ (2003) von Gus van Sant.
Holger Twele
„Notre-Dame du Nil“ wird derzeit noch im Programm von Generation 14plus im Rahmen der Berlinale gezeigt.
Notre-Dame du Nil - Frankreich, Belgien, Ruanda 2019, Regie: Atiq Rahimi, Festivalstart: 22.02.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 93 Min. Buch: Atiq Rahimi, Ramata Toulaye-Sy, nach dem Roman von Scholastique Mukasonga. Kamera: Thierry Arbogast. Musik: XXX. Schnitt: Hervé de Luze, Jacqueline Mariani. Produktion: Chapter 2, Les Films du Tambour. Verleih: offen (Vertrieb: Indie Sales). Darsteller*innen: Santa Amanda Mugabekazi (Virginia), Albina Sydney Kirenga (Gloriosa), Angel Uwamahoro (Immaculée), Clariella Bizimana (Veronica), Belinda Rubango Simbi (Modesta), Pascal Greggory (Fontenaille), Carole Trévoux (Mutter Oberin) u. a.
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