Fannys Reise
Unfreiwillig wird die 13-jährige Fanny zur Anführerin einer Kindergruppe auf der Flucht vor dem Holocaust.
Im Jahr 1943 gelang es dem knapp 13-jährigen jüdischen Mädchen Fanny Ben-Ami, zusammen mit ihren beiden jüngeren Geschwistern und gut zwei Dutzend weiteren Kindern zuerst mit Unterstützung von Erwachsenen, später dann weitgehend allein auf sich gestellt, dem Holocaust zu entkommen. Sie konnte auf einer mehrmonatigen beschwerlichen Reise mit zahlreichen Zwischenstationen vom besetzten Frankreich in die sichere Schweiz flüchten. Ihr Tagebuch, das sie damals führte, bildete die Grundlage für ihren autobiografischen Roman „Le journal de Fanny“, der mehr als 60 Jahre nach den Ereignissen von Lola Doillon, der Tochter des französischen Regisseurs Jacques Doillon, mit einer deutlich kleineren Schar von Kinderdarsteller*innen verfilmt wurde. Fanny Ben-Ami, die inzwischen in Israel lebt, hatte schließlich die Erlaubnis für den Film gegeben, „um die Kinder zu ehren, die damals mit mir geflüchtet sind, aber auch für die Kinder, die den Krallen der Nazis nicht entkommen konnten und auch für die Kinder, die heute flüchten müssen und allein, ohne Eltern, die vielleicht getötet wurden, auf verschiedenen Wegen auf der Welt herumirren.“
Bemerkenswert an dieser Aussage ist vor allem, dass es bei dieser Verfilmung offenbar nicht nur um Erinnerungs- und Gedenkkultur in Bezug auf eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit gehen sollte, sondern die Autorin ausdrücklich einen aktuellen Bezug herstellt, der unabhängig vom Holocaust auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik verweist. Bemerkenswert ist auch, dass dieser bereits mehrfach preisgekrönte Festivalfilm, der in Deutschland leider keinen offiziellen Kinostart hatte, in Frankreich überhaupt produziert werden konnte. Selbst die Regisseurin hatte große Zweifel über ihre Berechtigung, eine solche Geschichte zu erzählen und von jüdischen Kindern zu sprechen, „ohne selbst Jüdin zu sein“. Es ist offenbar gar nicht so einfach, auch in Frankreich heute (noch) einen Kinderfilm vor der unmittelbaren Folie des Holocaust zu drehen. Die deutschen Fernsehanstalten hätten bei einem solchen Thema aller Erfahrung nach vermutlich gleich ganz abgewinkt und keineswegs nur, weil heutige Kinder über die damalige Situation im teilweise von den Deutschen besetzten Frankreich zu wenig Vorwissen haben würden, sondern weil das Thema angeblich „out“ sei.
Man muss sich all das vor Augen halten, um würdigen zu können, um was für einen Glücksfall es sich bei diesem Film handelt. Es geht dabei nicht allein um den in Erinnerung gerufenen historischen Bezug und die Sensibilisierung für die Situation heutiger Flüchtlingskinder. Genauso wichtig ist die Umsetzung der Geschichte, was die Regisseurin zeigt und wie sie es zeigt. Wie es ihr – ähnlich wie Fanny damals – auf bewundernswerte Weise gelungen ist, eine Schaar von Kindern ganz unterschiedlichen Alters so perfekt zu führen und zusammenzuhalten. Natürlich musste Fanny zunächst noch in ihre unfreiwillige Führungsrolle hineinwachsen, nachdem die Erwachsenen „ausgefallen“ sind. Mehrfach werden die Kinder verraten, nicht immer nur aus böser Absicht, immer wieder gibt es aber – von der Heimleiterin über den Koch oder Schaffner bis zum Pfarrer – Menschen, die den Kindern helfen und ihnen zu ihrer Sicherheit eingetrichtert haben, ihren jüdischen Glauben zu verheimlichen. Bis auf das dramatische Ende, bei dem Fanny unter unmittelbarer eigener Lebensgefahr erneut Verantwortung für andere übernimmt, vermeidet es der Film, mit direkten Gewaltdarstellungen abzuschrecken. Teils mit Notlügen, aber auch mit fantasievollen Einfällen gelingt es Fanny, den jüngeren und älteren Kindern Mut zu machen, ihnen immer wieder Hoffnung zu geben. Mitunter sind es dann einfach nur Kinder, die gerne spielen und das auch tun. Über die historische und politische Dimension hinaus zeigt der Film, was Kinder in Notsituationen manchmal aushalten müssen und leisten können, wie wichtig Solidarität ist, was echte Freundschaft und Loyalität bedeuten. Und natürlich gehört zum (Über-)Leben manchmal auch eine gehörige Portion Glück.
Holger Twele
Le voyage de Fanny - Frankreich 2016, Regie: Lola Doillon, Homevideostart: 07.09.2018, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 94 Min., Buch: Lola Doillon, Anne Peyrègne, Kamera: Pierre Cottereau, Schnitt: Valérie Deseine, Musik: , Produktion: Sylvain Favre-Bulle, Gisèle Gérard-Tolini, Verleih: Atlas, Besetzung: Léonie Souchaud (Fanny), Lou Lambrecht (Rachel), Juliane Lepoureau (Georgette), Igor Van Dessel (Maurice), Malonn Lévana (Marie), Cécile de France (Madame Forman) u. a.
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