Ich habe meinen Körper verloren
Auf Netflix: Eine abgetrennte Hand sucht ihren Körper, ein junger Mann seinen Platz im Leben.
Der Titel spricht es klar und deutlich aus: Es geht um einen Verlust. Einen großen Verlust. Denn nicht etwa ein Gegenstand wurde verloren, sondern etwas, das normalerweise existenziell ist: der Körper. Und diejenige, die sich auf die Suche nach diesem Körper macht, ist, nunja, eine abgetrennte Hand.
Eine Hand ohne Körper, die sich aus einer Plastiktüte im Kühlschrank eines Labors befreit und sich alleine auf den Weg macht – das klingt nach dem Stoff für einen Horrorfilm. Und tatsächlich spielt der französische Animationsfilm von Jérémy Clapin zu Beginn auch mit den Erwartungen des Publikums und ist durchtränkt von einem schwarzen Humor. Aber schnell ändert sich dies. Aus der skurrilen, aberwitzigen Ausgangssituation macht Clapin ein poetisches Drama, einen Film, der immer wieder zu Herzen geht und durch seine Tiefgründigkeit überrascht.
Zwei Geschichten werden zunächst parallel erzählt: Eben jene der Hand, die durch ihre grazil animierten Bewegungen zu einem eigenständigen Charakter wird. Und jene des 20-jährigen Naoufel, der sich ebenfalls verloren fühlt. Seitdem seine Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglückt sind, lebt der junge Marokkaner in Paris bei seinem Onkel, der ihm jedoch keine Beachtung schenkt und ihm auch noch das wenige Geld, das er als Pizzabote verdient, abnimmt. Doch eines Abends, als wieder einmal alles schief zu laufen droht und die rechtzeitige Auslieferung einer Pizza missglückt, beginnt sich plötzlich eine junge Frau mit ihm zu unterhalten – über die Gegensprechanlage eines Wohnblocks. Naoufel verliebt sich in die Frau, die er nicht sehen kann. Trotzdem ist sie die erste, die ihn wahrnimmt. Während die Hand sich allein auf die Suche nach dem Körper macht, mit dem sie bis vor kurzem eine Einheit bildete, und dabei hungrigen Ratten und neugierigen Tauben entkommen muss, versucht Naoufel mehr über die junge Frau zu erfahren, schmeißt schließlich seinen Job als Pizzabote und heuert als Gehilfe in einer Hinterhofschreinerei an, die vom Onkel der jungen Frau betrieben wird.
„Ich habe meinen Körper verloren‟ beruht auf dem Roman „Happy Hand‟ von Guillaume Laurant, der auch das Drehbuch zum Film verfasste und sich zuvor vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Jean-Pierre Jeunet – unter anderem als Autor von „Die fabelhafte Welt der Amelie" – einen Namen gemacht hat. So fließt auch auch hier eine gehörige Portion Magie in die Geschichte ein, die manchmal schwermütig und manchmal schwebend-leicht wirkt, und durch ihren mal bissigen, mal warmherzigen Humor und ihre Menschlichkeit besticht. Wunderbar flüssig inszeniert Clapin ein Zeitpuzzle, in dem sich die Erlebnisse der Hand, von Naoufel sowie Erinnerungen an die Kindheit von Naoufel zu einer stimmigen Erzählung verknüpfen. Es ist schlicht großartig, wie die Ebenen sich zunehmend ineinander verschränken und mit welcher Sorgfalt Clapin von Anfang an Wert darauf legt, Hände ins Bild zu rücken und schon durch die Bildgestaltung Hinweise zu geben, was kommen wird.
Gleich in mehrfacher Hinsicht geht es in dem Animationsfilm darum, allein, orientierungslos und entwurzelt zu sein. „Ich habe meinen Körper verloren‟, könnte auch Naoufel nach dem Tod seiner geliebten Eltern gesagt haben. Doch der Film begleitet ihn dabei, wie er beginnt, sich seiner Trauer zu stellen, sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, etwas zu wagen und sich ins Leben zu stürzen.
Stefan Stiletto
J’ai perdu mon corps - Frankreich 2019, Regie: Jérémy Clapin, Homevideostart: 29.11.2019, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 80 Min. Buch: Jérémy Clapin, Guillaume Laurant, nach dem Roman „Happy Hand‟ von Guillaume Laurant. Musik: Dan Levy. Schnitt: Benjamin Massoubre. Produktion: Marc Du Pontavice. Anbieter: Netflix.
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