Soul
Auf Disney+: Ein Jazzmusiker stirbt und lernt als Seele das Leben neu kennen. Pixar zaubert wieder.
Als ich den vierten Teil von „Toy Story‟ (Josh Cooley, 2019) gesehen habe, war ich enttäuscht. Trotz Woody, Buzz und Forky, trotz der großartigen fotorealistischen Bilder, der sich ungemein natürlich bewegenden und detailreich gestalteten Figuren, trotz der zu Herzen gehenden Geschichte über Spielzeugfiguren, die sich mit ihrer Identität auseinandersetzen, hatte ich das Gefühl, überall schon einmal gewesen zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass Pixar mir all dies schon einmal – und ganz wunderbar – in den vorherigen drei „Toy Story‟-Filmen erzählt hatte. Auch in „Soul‟, dem neuen Film des kalifornischen Animationsstudios, gibt es einiges, das ähnlich schon in anderen Pixar-Filmen verhandelt wurde. Aber trotzdem kommt „Soul‟ mit einer Leichtigkeit und Tiefe daher, mit einer unterhaltsamen Ernsthaftigkeit, mit Ideen, die sich so nur in Animationsfilmen umsetzen lassen, mit einer Musikalität, einem Witz und einer Frische, die die besten Filme des Studios schon immer ausgezeichnet haben. „Soul‟ ist ein großer Pixar-Film geworden, mit dem der Regisseur Pete Docter direkt an „Alles steht Kopf‟ (2015) anknüpft.
Begann „Alles steht Kopf‟ mit einer Geburt, so steht zu Beginn von „Soul‟ der Tod. Als der Musiklehrer und passionierte Jazz-Musiker Joe Gardner nach einem Vorspielen glücklich nach Hause geht, passiert ein Unfall. Joe stirbt. Oder besser: Joe landet in der Zwischenwelt zwischen Leben und Tod. In die Riege der anderen Seelen, die brav die Treppe nach oben ins Jenseits gehen, will Joe sich aber nicht einreihen. Er springt – und landet in einer anderen Welt, im Davorseits, wo junge Seelen auf das Leben vorbereitet werden und eine Persönlichkeit entwickeln sollen. Erfahrene Seelen werden dort als Mentor*innen für die noch ungeborenen Seelen eingesetzt – und just wird Joe versehentlich zu einem solchen Mentor. Allerdings stellt man ihm eine besonders harte Nuss zur Seite: Eine Seele namens Nummer 22, die sich schon lange davor drückt, endlich mit dem Leben auf der Erde zu beginnen und in der nie der Funke zündet, der sie zu einem Menschen mit einer bestimmten Leidenschaft machen soll. An der Seite von Joe, der unbedingt zurück in seinen Körper will, um endlich als Jazz-Musiker durchzustarten, bleibt ihr keine Wahl, als sich ins Abenteuer zu stürzen. Dumm nur, dass bei der Flucht auf die Erde ein Missgeschick passiert. Während die Seele von Joe in den Körper eines fetten Katers fährt, der im Krankenhaus auf Joes Beinen liegt, landet Nummer 22 im Körper von Joe. Wenn Joe weiterhin seinen Traum verfolgen will, dann muss er nun 22 einflüstern, was diese in seinem Körper zu tun hat.
Die „Fernsteuerung‟ einer anderen Person aus „Ratatouille‟ (Brad Bird, 2007), die melancholische Lebensweisheit aus „Oben‟ (Pete Docter, 2009), die Darstellung des Nicht-Darstellbaren aus „Alles steht Kopf‟ (Pete Docter, 2015), die Identitätsfragen aus den „Toy Story‟-Filmen (John Lasseter, Lee Unkrich, Josh Cooley, 1995-2019), die Brücke in die Welt der Toten aus „Coco‟ (Lee Unkrich, 2017): Wer danach sucht, findet in „Soul‟ die Essenz vieler älterer Pixar-Filme. Dennoch wirkt das alles hier nicht wie Recycling. Auf wunderbare Weise fügen sich all diese Versatzstücke zu einer neuen Geschichte, die von Anfang an einen ganz eigenen Ton anschlägt, was hier aufgrund des jazzliebenden Protagonisten ganz wörtlich zu verstehen ist. Die Animation wechselt dabei zwischen Fotorealismus und Abstraktion, zeigt ein lebendiges New York, schwebende Zwischenwelten, an Cartoons erinnernde Menschen, fantasievoll-luftig-runde Seelen, auf Linien reduzierte Wächter im Picasso-Stilim Davorseits. Das Fantastische und das Reale gehen hier immerzu fließend ineinander über.
Schwerer zugänglich wird „Soul‟ durch seine Themenwahl allerdings für Kinder. Warum bin ich eigentlich hier? Wer bin ich? Was entflammt das Feuer in mir? Das sind gewaltige philosophische Fragen, die der Film mit viel Witz aufwirft. Vielleicht können Jugendliche „Soul‟ mehr abgewinnen, weil Joe sich ebenfalls in einer Lebensphase befindet, in der auf einmal alles in Frage gestellt wird und alle Sicherheiten fehlen, in der das „alte‟ Leben vorbei ist und die Weichen für ein neues Leben gestellt werden. Was Joe fehlt, erfährt er erst im Laufe der Geschichte durch 22, die in seinem Körper alles staunend zum ersten Mal erlebt.
Eine bessere Identifikationsfigur für Kinder dürfte hingegen 22 sein. Sie ist, trotz erwachsener Stimme, die „Kleine‟ in diesem Film, leidet unter dem Erwartungsdruck der „großen‟ Figuren, die sie unsicher und ängstlich gemacht haben. Aber sie ist eben auch neugierig, impulsiv und entdeckungsfreudig. Mit Joe hat sie einen Lehrer an ihrer Seite, einen Großen, der ihr das Leben zeigt und in jeder Hinsicht schmackhaft macht, der ihr ganz neue Möglichkeiten eröffnet und sie stark macht. Wobei sich die Rollen von Lehrer*in und Schüler*in hier freilich auch umkehren. Nicht zuletzt deshalb haben die Filmemacher*innen „Soul‟ auch all ihren Mentor*innen gewidmet.
Überraschend ist, was „Soul‟ über das Träumen zu erzählen hat. Der erwachsene Joe ist ein Kind der Selbstoptimierungsgesellschaft, in der auch das Erreichen eines Traums mehr leer macht als erfüllt. So erzählt dieser Film, aus dem Herzen der Traumfabrik, ausgerechnet davon, dass das Träumen gar nicht so gut ist, wenn man dadurch den Sinn für alles andere aus den Augen verliert. Es ist wie beim Jazz: Es reicht nicht, sich einfach nur allein im Fluss einer schönen Melodie zu verlieren. Man muss auch gut aufpassen, was um einen herum passiert.
Die Aufforderung, aus seiner eigenen kleinen, in sich geschlossenen Welt herauszutreten und wieder eine Verbindung zur Welt da draußen herzustellen: Kann es ein Thema geben, das im Jahr 2020 aktueller ist?
Stefan Stiletto
Soul - USA 2020, Regie: Pete Docter, Homevideostart: 25.12.2020, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 11 Jahren, Laufzeit: 100 Min. Buch: Pete Docter, Mike Jones, Kemp Powers. Kamera: Matt Aspbury, Ian Megibben. Musik: Trent Reznor, Atticus Ross; John Batiste. Schnitt: Kevin Nolting. Produktion: Pixar. Anbieter: Disney+
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