Grand Army
Auf Netflix: Lebendig, stark und absolut auf der Höhe der Zeit. Die Jugendserie beeindruckt durch ihre Authentizität und Relevanz.
Alles beginnt mit einer Bombe, die mitten am Tag explodiert. Eine Handvoll Schüler*innen einer öffentlichen Highschool in Brooklyn wird für ein paar Stunden ins heruntergekommene Schulgebäude in der Nähe des Grand Army-Platzes in New York einsperrt. Danach hat sich unmerklich alles verändert. Ein terroristischer Anschlag, der verunsichert, aber fast schon als etwas Normales wahrgenommen wird. In Folge dessen müssen sich die Schüler*innen in einer aus den Fugen geratenen Welt behaupten und ihren Weg ins Leben finden.
Es ist eine Vielzahl an Schüler*innen, die gleichberechtigt in dieser außergewöhnlichen Jugendserie eine Rolle spielen, und deren vielschichtigen Schicksalen man gerne folgt. Da ist etwa Joey, die geborene Anführerin mit großer Klappe und feministischem Aktionismus, mit blonder Mähne und provokativem Auftreten der Star der Schule. Im Herz der Geschichte tummeln sich auch Sid, Sohn indischer Eltern und bester Schwimmer der Schule, der mit seiner Homosexualität hadert, Dom, die ihre am Existenzminimum lebende haitianische Familie unterstützen muss, aber Karriere machen will, Leila, aus China von jüdischen Intellektuellen adoptiert, die nach ihrer Identität sucht, Jay, ein dunkelhäutiger Junge aus reichem Haus, der seinen besten Freund im Stich lassen muss. Und da ist Joeys getreue Entourage, bestehend aus drei Jungen: Einer will Sex, der andere Teil ihres Ruhms sein, der dritte eine Beziehung mit ihr. Sie alle werden in einer verhängnisvollen Nacht Joey etwas antun, aber nur einer von ihnen wird sich überhaupt dessen bewusst sein.
Die gesellschaftskritische Serie erzählt furios und zeitgemäß und macht große Themen auf: Schuld, Verantwortung, Loyalität, Freundschaft, Sexualität, Verrat, Gewalt, Alltagsrassismus. Der von Feministinnen entwickelte Kampfbegriff des „Slut Shaming“ wird hier durch eine lebendige Erzählung herausgearbeitet. Es ist eine postmigrantische und postfeministische Generation, die in den verkrusteten US-amerikanischen Strukturen nach Freiheit und Selbstbestimmtheit strebt. So provoziert Joey eine prüde Lehrerin mit ihrer Aktion „Free the Nipple“, der Sexismus besteht für sie nicht in ihrem erotisch offensiven Auftreten, sondern liegt eindeutig im Auge der Betrachtenden. Warum wird ihr Körper sexualisiert – der der Jungs aber nicht? Ihre Freund*innen unterstützen sie bei der Provokation. Jays bester Freund Owen erfährt, was es bedeutet, dunkelhäutig und arm zu sein, ein alberner Jungenstreich wächst sich für ihn zu einer völlig unangemessenen Suspendierung aus. Seine Zukunft wird einfach so ausgelöscht. Sid und seine Schwester Meera haben zwar extrem konservative indische Eltern, aber sie sind aufgeklärte New Yorker durch und durch. Die selbstbewusste Meera führt im Schultheater die „Vagina-Monologe“ auf. Tim, der in Joey verliebt ist, macht ihr mit den Worten „Du inspirierst mich“ eine ebenso reife wie schöne Liebeserklärung. Nicht nur die Mädchen dieser Generation sind emanzipiert.
In die temporeiche und personalstarke Erzählung werden ab und an kurze ironisch-blutige Comicstrips aus der Perspektive von Außenseiterin Leila gestreut, die in einem Endzeitsetting mit blutlechzenden Zombies ihrer Wut auf die Mitschüler*innen freien Lauf lässt. Die Episoden erhalten Zitate als Überschriften, die am Ende der Folge durch einen Satz ergänzt werden, wodurch ein völlig neuer Sinnzusammenhang hergestellt wird. „Sie alle haben Liebe in ihrem Leben“ heißt es vor der dritten Folge, in der eine Vergewaltigung passiert. Und am Ende: „Es ist ihr Mangel an Respekt, der ekelhaft ist.“
Die Sprache und Lebensentwürfe der Jugendlichen sind immer authentisch, die Erzählung bedient tatsächlich nicht ein Klischee. Es ist ein Hommage an diese Generation, eine Hommage auch an das großstädtische, libertinäre und multikulturelle Lebensgefühl und ein Stück aktuelle Zeitgeschichte – tatsächlich endet die erste Staffel im März 2020, in einem Nebensatz wird die aufziehende Coronakrise erwähnt.
Die Dramaserie basiert lose auf dem Theaterstück von Katie Cappiello „Slut – The Play“, das 2013 von jungen Frauen der „All-Girl Theater Company“ uraufgeführt wurde und das die Künstlerin über Jahre gemeinsam mit New Yorker Jugendlichen entwickelt hat. Die Charaktere beruhen auf deren Lebensgeschichten und Erfahrungen. Das begründet auch die Authentizität der Adaption. Die große Stärke der Serie ist, dass sie mehr Fragen aufwirft als beantwortet und Grauzonen und Ambivalenzen nicht fürchtet. Dabei bezieht sie dennoch eindeutig Stellung in Bezug auf die Grenzüberschreitung, die ein junges Mädchen erfahren muss. Das ist stark und lädt zur Auseinandersetzung ein. Es bleibt zu hoffen, dass eine weitere Staffel von diesem lebendigen und mutigen Stück Zeit- und Stadtgeschichte in Auftrag gegeben wird.
Christiane Radeke
Grand Army - USA 2020, Regie: Katie Cappiello, So Yong Kim, Darnell Martin, Tina Mabry, Silas Howard, Homevideostart: 16.10.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 9 x 42 Min. Buch: Katie Cappiello, nach dem Theaterstück „Slut: The Play‟ von Katie Cappiello. Kamera: Ava Berkofsky, Bobby Shore, Autumn Eakin, Andrew Wehde. Musik: Morgan Kibby. Schnitt: JoAnne Yarrow, Fabienne Bouville, Darrel Drinkard, Jon Otazua, Jessica Hernández, Produktion: Joshua Donen, Beau Willimon. Anbieter: Netflix. Darsteller*innen: Odessa A'zion (Joey Del Marco), Odley Jean (Dominique „Dom‟), Amir Bageria (Siddhartha „Sid‟), Amalia Yoo (Leila), Maliq Johnson (Jayson „Jay‟) u. a.
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