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Noch nie in meinem Leben...

Auf Netflix: Drei Highschool-Schülerinnen erfinden sich neu in dieser pointiert geschriebenen Serie.

Highschool zweites Jahr, Tag eins: Der perfekte Zeitpunkt, um sich selbst neu zu erfinden, beschließt die fünfzehnjährige Devi Vishwakumar. Vor allem, wenn man als Nerd verschrien ist. Erst recht, wenn im vergangenen Schuljahr auf dem Schulkonzert der Vater gestorben ist und man danach monatelang im Rollstuhl saß. Ab sofort heißt es für Devi und ihre beiden besten Freundinnen Eleanor und Fabiola: Cool werden und angesagt sein! Oder doch wenigstens nicht länger Außenseiter, sondern „normal“. Dazu gehört unbedingt ein fester Freund. Und Sex. Selbstverständlich hat Devi bereits eine Strategie entwickelt, wie die drei das neue Image bekommen.

Die US-amerikanische Highschool als Schauplatz jugendlicher Sozialisation ist beliebtes Komödien-Terrain. Hier sind alle möglichen Typen vertreten und mit Stempeln versehen – die populären Kids, die Streber*innen, die Supersportler*innen, die Nerds. Konflikte und Komplikationen in ihrem Zusammentreffen sind zuverlässige Quelle für Situationskomik. „Noch nie in meinem Leben…“ teilt diese Prämisse und bedient die bekannten Typen. Dennoch sticht die Coming-of-Age-Serie erfrischend aus dem üblichen Einheitsbrei der Highschool-Komödien hervor. Das ist zunächst einmal dem erprobten Autorinnen-Duo Mindy Kaling und Lang Fisher zu verdanken, das bereits bei der Sitcom „The Mindy Project“ (2012-2017) und der Mockumentary-Serie „The Office“ (2005-2013) erfolgreich zusammengearbeitet hat und für bissigen, politisch unkorrekten Humor steht. Wie schon für „The Mindy Project“ diente Kalings eigenes Leben als Inspiration, hier nun konkrete Erlebnisse aus ihrer Kindheit und Jugend. Dazu zählt auch der frühe Verlust eines Elternteils, vor allem aber natürlich die indischen Wurzeln.

Kaling und Fisher gewähren Einblicke in die Realität indischer Amerikaner*innen. Kann Devi den Puja-Feiertag nutzen, um den College-Berater von ihrer Princeton-Eignung zu überzeugen? Gelingt Cousine Kamala der Spagat zwischen Promotion und arrangierter Ehe? Mit viel Humor wird die Doppelmoral entlarvt, mit der unvereinbare Ansprüche aus indisch-hinduistischer Tradition und Religion einerseits und aus der modernen amerikanischen Gesellschaft andererseits gehandhabt werden. Zum Erfolg trägt auch die fabelhafte Besetzung bei, insbesondere ist Maitreyi Ramakrishnan (Jahrgang 2001) als Devi ein echter Glücksgriff.

Die Handschrift des Duos findet sich in gelungen schrägen Einfällen bei der Figurenzeichnung, absurder Situationskomik und einem pointierten Wortwitz. Streng genommen sind die verbalen Retourkutschen mitunter zu schlagfertig, zu abgeklärt und geschliffen, als dass sie pubertierenden Teenager*innen zugeschrieben werden könnten. Aber die Wortgefechte machen höllisch Spaß und sind damit legitim – zumal die Figuren und ihre Befindlichkeiten nie einer Pointe geopfert werden.

Zusätzlich sorgen ernstere Themen und Konflikte für ein Gegengewicht und die nötige Bodenhaftung. Schlüsselereignis ist der vor der erzählten Gegenwart liegende plötzliche Herztod von Devis Vater. Obwohl dieser Devi für einige Zeit buchstäblich lähmte, stellt sie keinen Zusammenhang zwischen ihren Problemen und dem Verlust her. Ihr Umgang mit ihrer Trauer heißt Verdrängung. Das von ihrer Therapeutin vorgeschlagene Trauertagebuch verweigert sie ebenso wie Gespräche zum Thema. Stattdessen stürzt Devi sich in die Umsetzung ihres neuen coolen, populären Ichs.

Eine raffinierter Schachzug ist es, nicht die Protagonistin als naheliegende Ich-Erzählerin einzusetzen, sondern einen – quasi – unbeteiligten Off-Erzähler. Niemand Geringeres als Tennislegende John McEnroe übernimmt diesen Part und erläutert, dass er der Lieblingssportler von Devis Vater gewesen sei und mit Devi das explosive Temperament gemein habe. Im Stil eines Sportkommentators bewertet er das Geschehen und Devis Verhalten durchaus subjektiv, mal ironisch, mal empathisch: „Kann sie ihre alte Identität als das gelähmte indische Mädchen, dessen Vater bei einem Schulkonzert gestorben ist, abschütteln? So was bleibt hängen.“

Diese Freiheit der Perspektive wird augenzwinkernd auf die Spitze getrieben, wenn für eine Episode über Ben, Devis Hauptkonkurrenten als Klassenbeste*r, auch McEnroe als Erzähler ersetzt wird. Es übernimmt Andy Samberg, Star der Sitcom „Brooklyn Nine-nine“ (seit 2013, ebenfalls bei Netflix , für die Lang Fisher drei Folgen geschrieben hat).

Der Titel der Serie bezieht sich auf das gleichnamige Party-Trinkspiel, ähnlich dem hierzulande bekannteren „Wahrheit oder Pflicht“. Jede Episode widmet sich einer solchen noch nie passierten Begebenheit. Richtig genutzt ist der Zeitfaktor einer der Vorteile von Serien. Neben der Hauptfigur können auch weitere Rollen mit Tiefe und Kanten angelegt und ihren Entwicklungen Raum gegeben werden. So hier geschehen: Rückblenden in die Vorgeschichte liefern häppchenweise Details zu den Beweg- und Hintergründen der Figuren. Alle haben sie ganz eigene Sehnsüchte, Sorgen oder Geheimnisse. Das verleiht ihnen Glaubwürdigkeit und Identifikationspotenzial für die jugendliche Zielgruppe. Die sympathische Antiheldin Devi agiert unerschrocken, frech und leidenschaftlich und trifft dabei viele falsche Entscheidungen. Fabiola und Eleanor entsprechen ebenfalls nicht dem Klischee des verhuschten Nerd-Mauerblümchens. Diese individuellen jungen Frauen sind durchaus als emanzipierte role models zu verstehen. Auch hinter Vorzeige-Inderin Kamala, Schulschwarm Paxton, Streber Ben oder Devis Mutter Nalini steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.

Die große Frage ist: Wer will ich sein? Jede*r hat viele Rollen und Erwartungen zu erfüllen, muss die eigenen Vorstellungen definieren. Devi ist indische Amerikanerin hinduistischen Glaubens, Tochter, Freundin, Nerd. Und Jungfrau. Letzteres ist besonders unliebsam für Devi. Sie bringt das Dilemma der Jugend auf den Punkt: „Ich denke die ganze Zeit an nichts anderes als an Sex, habe aber keine Ahnung, wie es geht." Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität findet in recht expliziter Sprache statt. Auffällig sparsam, um nicht zu sagen prüde, bleibt hingegen die visuelle Darstellung von Körperlichkeit.

„Noch nie in meinem Leben…“ erfindet vielleicht nicht das Rad neu, gehört aber unbedingt zu den sehenswerten Jugendserien. Erfreulicherweise ist die Serie sehr erfolgreich: In den ersten vier Wochen wurde sie von rund 40 Millionen Accounts abgerufen und war auf Platz 1 der meist gestreamten Produktionen im Frühjahr 2020. Wenn auch noch ohne konkreten Starttermin, gilt die zweite Staffel als gesichert. Das ist eine wirklich gute Nachricht.

Ulrike Seyffarth

© Netflix
13+
Spielfilm

Never Have I Ever - USA 2020, Regie: Tristram Shapieero, Linda Mendoza, Kabir Akhta, Anu Valia, Homevideostart: 27.04.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 13 Jahren, Laufzeit: 10 Folgen x 22-30 Min. Buch: Mindy Kaling, Lang Fisher, Aaron Geary, Amina Munir, Ben Steiner und andere. Kamera: Rhet Bear. Musik: Joseph Stephens. Schnitt: Mat Greenleaf, Christian Kinnard, Jonathan Pledger. Produktion: Leanne Moore. Anbieter: Netflix. Darsteller*innen: Maitreyi Ramakrishnan (Devi Vishwakumar), Darren Barnet (Paxton Hall-Yoshida), Jaren Lewison (Ben), Ramona Young (Eleanor), Lee Rodriguez (Fabiola), Richa Moorjani (Devis Cousine Kamala), Poorna Jagannathan (Devis Mutter Nalini) u. a.

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