Mein Bruder, der Superheld
Online beim KiKA und im ZDF: Der Preisträger des EFA Young Audience Award 2020.
Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte, wie sie tatsächlich das Leben schrieb, ein Bestseller in Italien, in mehrere Sprachen übersetzt, 1997 zu Papier gebracht von dem damals noch kaum zwanzigjährigen Giacomo Mazzariol aus Norditalien, der sie selbst erlebt hat. Sie handelt von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens unter erschwerten Bedingungen. Denn Gio, der kleine Bruder von Giacomo (im Film: Jack), hat das Down-Syndrom, auch Trisomie 21 genannt, weil das Chromosom Nr. 21 im Erbgut nicht doppelt sondern dreifach vorhanden ist. Die Folge sind Behinderungen geistiger und körperlicher Art. Das schließt ein erfülltes Leben nicht aus und auch darum geht es in der Romanvorlage und in der Filmadaption von Stefano Cipani.
Gio ist in jedem Fall etwas Besonderes. Das haben Jacks Eltern ihrem Sohn nach Gios Geburt vermittelt, der sich mit zwei älteren Schwestern schon sehr auf seinen kleinen Bruder gefreut hatte. Jack hatte da allerdings eher an übernatürliche Kräfte gedacht und Gio schon als Superhelden gesehen. Seine Enttäuschung ist umso größer, als er erkennt, dass Gio ständig auf fremde Hilfe angewiesen ist und sein geliebter Bruder möglicherweise auch eine geringere Lebenserwartung hat. Gio kümmern solche Sorgen zum Glück herzlich wenig, er möchte unmittelbar am Leben der Familie teilhaben, zur Schule gehen, etwas lernen und natürlich auch seinen Spaß haben. Wenn er aus seiner Begeisterung für Dinosaurier wieder einmal auf der „Jagd“ nach ihnen ist, kann das die Familie und insbesondere Jack schon mal in peinliche Situationen bringen.
Der feste Zusammenhalt in der Familie erhält einen empfindlichen Dämpfer nicht etwa durch Gio, sondern durch Jack. Bewusst sucht Jack sich als Jugendlicher eine Schule in einer anderen Stadt aus, um Distanz zu schaffen, und verliebt sich dort zum ersten Mal. Seine neue Mitschülerin Arianna ist selbstbewusst, politisch stark engagiert und allseits beliebt. Um ihr Herz zu gewinnen, glaubt Jack, seinen behinderten Bruder verleugnen zu müssen, erklärt ihn offiziell für tot und löscht sogar den YouTube-Kanal von Gio, der mit seinen unkonventionellen Clips schnell auf öffentliche Aufmerksamkeit gestoßen ist. Dann stellt er anonyme Neonazis gar noch als die vermeintlichen Urheber*innen dar. Noch ahnt Jack nicht, welche Konsequenzen sein Verhalten haben wird, für ihn selbst, aber auch für Gio und die ganze Familie.
Mit einem gelungenen elliptischen Zeitsprung in Gios Alter von vier Jahren deckt der Film einen Zeitraum von über 14 Jahren ab – natürlich mit verschiedenen Darsteller*innen in der jungen Generation. In den ersten Filmminuten wirkt alles noch wie ein beschaulicher Kinderfilm für eine ganz junge Zielgruppe. Präsentiert wird ein überaus harmonisches, geradezu idealisiertes Familiengefüge, das mit der spanischen, durch Almodovar-Filme international bekannt gewordenen Darstellerin Rossy De Palmaals Jacks unkonventionelle Tante noch potenziert wird. Diese entwickelt sich später zur unverzichtbaren Ratgeberin für Jack in nahezu allen Lebenslagen und Liebesdingen.
Bereits mit Jacks Schulwechsel gewinnt der Film schnell an Fahrt und konzentriert sich auf die wesentlichen Aspekte der Coming-of-Age-Geschichte, die Suche nach der eigenen Identität und nach Anerkennung in der Gruppe der Gleichaltrigen, die ersten Liebeserfahrungen, die Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen der Erwachsenen, die in den abschließenden Worten von Jacks Vater kulminieren, sein Sohn sei nun endlich in der Welt der Erwachsenen angekommen.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in Italien und anderswo mag das allzu versöhnlich klingen. Aber vielleicht sind gerade deswegen solche humanistischen und optimistischen Botschaften besonders gefragt und sogar ersehnt. Jack jedenfalls wird die Gnade der Vergebung zuteil, er erhält trotz seines groben Fehlverhaltens und seiner Lügengespinste eine zweite Chance, die er insbesondere bei und mit seinem Bruder gut zu nutzen weiß, was zumindest dem Publikum in Italien aus dem Internet hinlänglich bekannt ist. Und an dieser Botschaft gibt es wirklich nichts zu kritisieren oder zu rütteln, denn der Film macht unmissverständlich klar, dass Menschen mit Down-Syndrom die gleiche Würde und das gleiche Existenzrecht wie jeder andere Mensch auch haben.
Holger Twele
Die Kritik erschien erstmals anlässlich des EFA Young Audience Awards 2020.
Mio fratello rincorre i dinosauri/My Brother Chases Dinosaurs - Italien/Spanien 2019, Regie: Stefano Cipani, Festivalstart: 03.05.2020, Homevideostart: 20.03.2021, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 102 Min. Buch: Fabio Boniface, Giacomo Mazzariol, nach dem Roman von Giacomo Mazzariol. Kamera: Sergi Bartolì. Musik: Lucas Vidal. Schnitt: Massimo Quaglia. Produktion: Isabella Cocuzza, Arturo Paglia, Antonia Nava. Verleih: offen. Darsteller*innen: Francesco Ghegi (Jack), Lorenzo Sisto (Gio), Arianna Becheroni (Arianna), Alessandro Gassmann (Davide), Isabella Ragonese (Katia), Rossy de Palma (Tante Rock) u. a.
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