Dilili in Paris
Der in prächtigen Bildern schwelgende neue Animationsfilm von Michel Ocelot.
Allein schon für die Augen ist „Dilili in Paris“ ein großes ästhetisches Erlebnis. Michel Ocelot schuf einen bildprächtigen, visuell schwelgerischen Zeichentrickfilm, dessen tableauartige Kompositionen voller raffinierter Bezüge, subtiler Zitate und kenntnisreicher Nachgestaltungen sind: Er erweckt die Zeit der Belle Epoque, als Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der großen Metropolen geistiger, künstlerischer und wissenschaftlicher Entwicklungen war, zu neuem Leben und feiert sie geradezu hymnisch als eine Zeit des Aufbruchs und der Erneuerung. Dabei gelingt ihm souverän ein Spagat: „Dilili in Paris“ ist ein unterhaltsamer Detektivfilm für Kinder, zugleich eine detail- und kenntnisreiche Geschichtslektion, vor allem aber ein engagierter, vehement kämpferischer Beitrag gegen jede Art von Vorurteilen und Ausgrenzungen, Intoleranz und der Verletzung der Menschenwürde.
Im Mittelpunkt steht ein Mädchen, das nicht nur aktiv die kriminalistische Handlung vorantreibt, sondern zugleich Fremdenführerin, Beobachterin und Vermittlerin ist. Dilili ist höflich, freundlich und sehr neugierig. Sie kam aus Neukaledonien nach Paris und will genau wissen, wie die Menschen in der französischen Hauptstadt leben, was sie denken und wie sie sich verhalten. Dabei gerät sie in ein spannendes, zunehmend sogar bedrohliches Abenteuer, denn in Paris verschwinden immer mehr Mädchen und Frauen spurlos. Dilili wird zur Detektivin, die einer perfekt organisierten Verbrecherbande auf die Spur kommt.
Unterstützt wird sie vom jungen Pariser Fahrradboten Orel, aber auch von vielen anderen Menschen, die fast alle sehr berühmt sind: Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Architekt*innen, Forscher*innen. Es sind allesamt Persönlichkeiten, die zu Beginn des neuen Jahrtausends für Aufbruch und Fortschritt, freies Denken und mutiges Handeln stehen: Henri de Toulouse-Lautrec, Louis Pasteur, Emma Calvé, Auguste Rodin, Camille Claudel, Alberto Santos-Dumont, Sarah Bernhardt, Marie Curie, Louise Michel und viele andere. Vor allem sind es die Frauen, denen sich der Film liebe- und respektvoll zuwendet, indem er deutlich macht, wie sie für ihre Rechte und Ideen kämpfen müssen und sich gegen viele Widerstände und Rückschläge doch zu starken, geachteten und sogar einflussreichen Persönlichkeiten entwickeln. Womit sie nicht nur für ein Mädchen wie Dilili zu tollen Vorbildern werden.
Aber auch das Publikum muss zu aufmerksamen detektivischen Spürnasen werden und genau auf die vielen farbenprächtigen Bilder dieses Zeichentrickfilms schauen. Das fängt bereits damit an, dass man zu Beginn den Alltag einer kleinen Familie in einem exotischen Dschungel sieht, doch schnell ahnt, dass hier etwas nicht stimmt: Wie sich zeigt, befinden sich die dunkelhäutigen Menschen mitten in Paris und spielen nur vor, wie sie in ihrer Heimat leben. Und die Pariser bestaunen sie wie Tiere in einem Zoo! Auch Dilili kommt aus Neukaledonien, einer Inselgruppe im Pazifik, die bis heute zu Frankreich gehört. Nach ihrer Tätigkeit als „Schauspielerin“ entdeckt sie ihrerseits Paris, beobachtet aufmerksam die Menschen und ihre Lebensweise, betreibt quasi Verhaltensstudien. Das Mädchen mit der dunklen Haut einer Kanakin trägt dabei ein weißes, sehr bürgerliches, westliches Kleidchen, das sehr altmodisch wirkt – bis man erkennt, dass der Film vor fast 120 Jahren spielt, als man das Leben in Frankreich die Belle Epoque nannte, die „schöne Epoche“, in der es den meisten Menschen gut ging, Kunst und Wissenschaft aufblühten, es aber auch bereits viele Schattenseiten gab: Menschen an den Rändern der Großstadt, die in armen, prekären Verhältnissen leben, vor allem aber auch radikal Andersdenkende, die den Fortschritt ablehnen, ihn hassen und bekämpfen, wobei vor allem selbstbewusste Frauen, die unabhängig leben, denken und arbeiten wollen, für sie zu Feinden werden.
Regisseur Michel Ocelot wurde durch seine Filme um den kleinen afrikanischen Jungen Kiriku berühmt, unter anderem „Kiriku und die Zauberin“ (1998). Kiriku aus Afrika und Dilili aus der Südsee haben vieles gemeinsam: Beide sind sorg- und angstlos, beide legen sich mit mächtigen Gegnern an und kämpfen für Gerechtigkeit und die Rechte der Menschen. Damit werden sie zu Vorbildern, mit denen sich bereits junge Zuschauer*innen gut identifizieren können und die sie auch sicher durch einige sehr spannende, beklemmende Szenen geleiten, in denen die hartherzigen Verbrecher Mädchen und Frauen gefangen halten, um sie grausam zu unterwerfen. Erwachsene erkennen dabei das kenntnisreiche Spiel des Films mit Motiven von Jules Verne bis zu „Fantomas“ und „Belfegor“, was erfreulicherweise junge Zuschauer*innen gar nicht wissen brauchen. Sie erleben dennoch einen unterhaltsamen und spannenden Film, in dem man sehr, sehr vieles erfährt, ohne aber je belehrt zu werden. Das Ende ist dann eine schöne Utopie: Alle Menschen werden befreit und sind nun tatsächlich frei, sie leben in Frieden, Respekt und Liebe miteinander. Wobei gerade Erwachsenen klar wird, wie bedroht und brüchig dieses (bürgerliche) Wunschbild bis heute ist.
Horst Peter Koll
Diese Kritik erschien anlässlich der Aufführung im Rahmen des Programms von Cinéfête 2020.
Dilili à Paris - Frankreich, Belgien, Deutschland 2018, Regie: Michel Ocelot, Festivalstart: 13.02.2020, Homevideostart: 28.07.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 93 Min. Buch: Michel Ocelot. Musik: Gabriel Yared. Schnitt: Patrick Ducruet. Produktion: Mars Film/Wild Bunch/Studio O/Shelter prod. Nord-Ouest Films/Arte France Cinéma/Artémis/Senator/Mac Guff Ligne/RTBF/VOO/BE TV.
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