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Euphorie

Auf RTL+: Jugendliche Ängste und Sehnsüchte entfalten in der deutschen Version der israelischen Serie große Sogwirkung.

Kann das wirklich gut gehen? Dieser Gedanke dürfte nicht wenigen Serienfans durch den Kopf geschossen sein, als RTL im Herbst 2024 ankündigte, das israelische Jugenddrama „Euphoria“ (Ron Leshem, Daphna Levin, 2012-2013) zu adaptieren. Bekanntheit erlangte der Stoff um die Sorgen, Träume und Ängste einer Gruppe Jugendlicher vor allem durch die gefeierte US-Verfilmung gleichen Namens (Sam Levinson, 2019-heute), in der Marvel-Darstellerin Zendaya die Hauptrolle verkörpert. Die Messlatte lag also hoch! Und da RTL nicht unbedingt für psychologisch ausgefeilte Serien bekannt ist, waren die Zweifel berechtigterweise groß.

Nach der Premiere von „Euphorie“ auf dem Filmfest München 2025 lässt sich allerdings sagen: Zu Unrecht! Denn zumindest in den ersten drei vorgestellten Folgen zieht die auf eigenen Wegen wandelnde Adaption die Zuschauer*innen komplett in ihren Bann. Aber der Reihe nach!

„Euphorie“ handelt von der 16-jährigen Mila, die nach einem dreimonatigen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie wieder in ihr altes Leben zurückkehrt – und darauf eigentlich keinen Bock hat. Am liebsten wäre sie einfach nur die ganze Zeit mit Ali zusammen. Eine Mitpatientin, die ihr nicht mehr aus dem Kopf geht. Wohl oder übel muss Mila jedoch wieder in die Schule, wo sie auch dem arroganten Basti begegnet, der ein Sexvideo mit ihr in Umlauf gebracht hat. Einer der Gründe, warum sie auf die Welt so schlecht zu sprechen ist. Bei einer Party kommt Mila mit dem drogenabhängigen Jungschauspieler Jannis ins Gespräch, der ebenso wie sie verzweifelt nach seinem Platz im Leben sucht. Als die unter mysteriösen Umständen verschwundene Ali plötzlich auftaucht, ist das emotionale Chaos perfekt. Denn zu beiden fühlt sich Mila hingezogen.

Wer die US-Verfilmung kennt, wird merken, dass sich die „Euphorie“-Macher*innen inhaltlich von dieser wegbewegen. Was beispielsweise sofort auffällt: Anders als die von Zendaya gespielte Rue steckt Mila anfangs noch nicht im Drogensumpf fest, sondern gerät erst über Jannis mit Rauschmitteln in Kontakt. Verwundern müssen die Unterschiede nicht. Immerhin, so betonten es die Verantwortlichen in München, wurden für die RTL-Produktion „bloß“ die Rechte an der unbekannteren israelischen Originalfassung erworben.

Von den ersten Szenen an gelingt es der Serie, eine poppig-schnittige Inszenierung mit eindringlichen Darbietungen und einem Gespür für die Befindlichkeiten der Figuren zu verbinden. Milas teils sarkastischer Voice-over-Kommentar begleitet viele Bilder und gewährt uns Einblick in das Durcheinander in ihrem Kopf. Dass sie nach einem mutmaßlichen Suizidversuch in der Jugendpsychiatrie gelandet ist, hat viele Gründe. Die Krisen unserer Zeit, besonders die Corona-Pandemie mit ihren Beschränkungen, belasten ihr Gemüt ebenso wie das Sexvideo-Leak oder das Auseinanderbrechen ihrer Familie nach der erfolgreich überstandenen Krebserkrankung ihrer Mutter. Ein Gemisch an Sorgen und Unsicherheiten baut sich zu einem Wirbelsturm auf, der Mila hinwegzufegen droht.

In der Klinik, deren Alltag erfrischend klischeefrei eingefangen wird, findet sie wieder etwas zu sich. Vor allem dank Ali. Zu den gelungenen Kniffen der Serie gehört es, dass in der dritten Folge die Stimme der Erzählerin wechselt, auf einmal Ali ihre Geschichte und Vergangenheit zu kommentieren beginnt. Nicht nur in den Dialogen versucht „Euphorie“, die psychischen Probleme der Figuren greifbar zu machen. Immer wieder bemühen sich die Macher*innen auch um optisch prägnante Darstellungsformen. Alis Empfindungen als Borderline-Patientin, ihre Angst vor zu viel Nähe etwa vermittelt eine düstere Animationspassage. Wenn Mila beschreibt, welche Wirkungen Medikamente auf sie haben („Dir scheint die Sonne aus dem Arsch!“), spiegelt sich das an einer Stelle in den (surrealen) Bildern wider: Glücklich lächelnd tänzelt sie in Zeitlupe über einen hell erleuchteten Psychiatrieflur und klatscht dabei Personal und andere Klinikbewohner*innen ab.

Was für eine deutsche Produktion außerdem ungewöhnlich ist: Regelmäßig durchbricht „Euphorie“ die eigene Illusionswelt, indem ein Spotlight auf eine Figur gerichtet wird und/oder Mila direkt zum Publikum spricht. Einfach zurücklehnen und berieseln lassen, ist hier nicht drin!

Dass die Adaption das Publikum fesselt, liegt nicht zuletzt am durch die Bank natürlich aufspielenden Ensemble. Mit ihren großen, ausdrucksstarken Augen ist Derya Akyol der starke Fixpunkt einer zwar temporeich erzählten, gleichzeitig aber emotional tiefschürfenden Serie, die auch mit einem coolen Soundtrack überzeugt.

Euphorie zeigt daher eindrucksvoll, was möglich ist, wenn junge Kreative Freiraum bekommen – und Sender den Mut haben, ihn zu gewähren.

Christopher Diekhaus

Diese Kritik wurde im Rahmen der Berichterstattung über die Premiere der Serie beim Filmfest München 2025 verfasst. Gezeigt wurden die ersten drei Folgen.

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Spielfilm

Deutschland 2025, Serien-Idee: André Szardenings, Antonia Leyla Schmidt, Festivalstart: 02.07.2025, Homevideostart: 02.10.2025, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 8 Episoden, Buch: Jonas Lindt, Raquel Kishori Dukpa, Paulina Lorenz, Antonia Leyla Schmidt nach der israelischen Serie „Euphoria“, Kamera: Jonathan Ibeka, Musik: Noia, Ton: Ole Ohlendorf, Schnitt: Martin Mayntz, Friederike Hohmuth, Antonia Klein, Produktion: Michael Souvignier, Till Derenbach, Lennart Pohlig (Executive Producer), Streamingdienst: RTL+, Besetzung: Derya Akyol (Mila), Sira-Anna Faal (Ali), Eren M. Güvercin (Jannis), Kosmas Schmidt (Basti), Renée Gerschke (Lilly), Dilara Aylin Ziem (Leyla) u. a.