We are who we are
Auf Starzplay: Gemächlich, aber intensiv erzählt die Serie von Luca Guadagnino über die Frage: Wer bin ich und wer will ich sein?
Der Junge ist ein Rätsel. Und ein unsympathischer Typ noch dazu. Bei der Ankunft in Italien steht der gebürtige New Yorker abseits von seiner Mutter und deren Frau. Während die sich um seinen verschollenen Koffer kümmern, braucht er erst einmal einen Schluck aus dem Flachmann. Der Vierzehnjährige mit dem auffälligen überlangen Designer-T-Shirt, das ihm bald seinen Spitznamen einbringen wird, den mehrfarbig lackierten Fingernägeln und den blondierten Wuschelhaaren ist dauergenervt und egozentrisch. Es kommt nicht selten vor, dass er andere einfach anrempelt. Und mit der kulturellen Sensibilität ist es nicht weit. Italien? Das ist doch das Land des Weins – also kann man auch überall einfach so mit einer Weinflasche rumlaufen und Wein saufen.
Luca Guadagnino, der vor allem mit seinem Film „Call me by your name‟ (2017) auf sich aufmerksam gemacht hat, macht es dem Publikum seiner achtteiligen Serie nicht leicht. Distanziert beobachtet man die Protagonist*innen, nicht gerade heimelig wirkt der Schauplatz: „We are who we are‟ spielt auf einer US-Militärbasis in Venetien, in einem Mikrokosmos, der nur selten verlassen wird. Was allerdings zu einer interessanten Konstellation führt, weil sämtliche Protagonist*innen wie auf einer abgeschiedenen Insel leben, umgeben von Fremden, die eine andere Sprache sprechen – oder dadurch selbst wie Fremde wirken. Obgleich Guadagnino in seiner Erzählung bisweilen am Rande auch die Geschichten der Eltern streift, konzentriert er sich doch vor allem auf eine Gruppe Jugendlicher, die mit ihren Eltern für höchstens drei Jahre dort gestrandet sind. Für Fraser, den jungen modesüchtigen New Yorker, ist die Situation besonders unangenehm, weil seine Mutter Sarah das Kommando über die Streitkräfte dort übernehmen wird und er somit ohne eigenes Zutun schon im Rampenlicht steht.
Es dauert bis zum Ende der ersten Episode, bis die Serie zu ihren zentralen Figuren findet. Fraser beobachtet, wie die etwa gleichaltrige Nachbarin Caitlin sich heimlich aus dem Haus schleicht und in eine Bar geht. Fraser folgt ihr – und ist überrascht, als sie dort, ihre langen Haare unter einer Mütze versteckt, offenbar für einen Jungen gehalten wird und sich entsprechend als Harper ausgibt. Frasers Interesse jedenfalls ist geweckt.
Der gemächliche Erzählrhythmus ist ein Merkmal der Serie, die sich Zeit für kleine Beobachtungen und Umwege nimmt, manchmal viel länger als üblich in einer Szene bleibt und diese ausspielt und sich zunehmend auch mehr Freiheiten nimmt. Eine ganze Episode lang etwa begleitet sie die Jugendclique, der sich durch Caitlin bald auch Fraser anschließen kann, bei einer in jeder Hinsicht ausschweifenden Party in einer Villa in Jesolo, in die realistische Handlung der sechsten Episode fließt plötzlich eine artifizielle Musicalszene ein, die als Zitat an das Musikvideo zu „Time will tell‟ von Blood Orange angelegt ist, in der finalen Episode gar schwelgt sie in einem langen Konzertbesuch und saugt die Atmosphäre auf. Rückblickend sind es diese überraschenden Ausbrüche aus der üblichen Seriendramaturgie, die „We are who we are‟ einen besonderen Flair verleihen. Zum schnellen Weggucken ist sie sicher nicht geeignet. Dafür nimmt sie sich Zeit für ihre kantig bleibenden Figuren, erklärt nicht alles und lässt Raum – und erzählt ohne Voyeurismus über die Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentitäten.
„Nur weil meine Mutter lesbisch ist, muss ich nicht schwul sein‟, sagt Fraser einmal. Und Caitlin antwortet nüchtern sinngemäß, dass er es aber trotzdem sein dürfe. Schnell entsteht eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden, weil sie gleichermaßen „lost‟ sind. Wer bin ich? Wer will ich sein? Das sind die zentralen Fragen, um die sich die Handlung immer wieder dreht und die in mehrfachen Figurenkonstellationen verhandelt wird. Eine Suche, die immer auch schmerzhaft und mit Rückschlägen verbunden ist. Fraser wird Augen auf einen erwachsenen Soldaten werfen, der nett zu ihm war und seine Leidenschaft für anspruchsvolle Literatur teilt, Caitlin wird immer häufiger versuchen, wie ein Junge auszusehen und in eine für sie neue Rolle zu schlüpfen.
„We are what we are‟ mäandert umher, stockt manchmal, stößt vor den Kopf, erzählt vielleicht sogar für die Laufzeit auch zu wenig. In ihren leisen Tönen, ihrer Offenheit und Vielschichtigkeit ist die Serie dann aber doch bemerkenswert und liefert immer wieder eindrückliche Szenen, in denen es um die Suche nach dem Platz im Leben geht, ganz gleich ob sexuell, religiös oder familiär. „Time will tell‟ wird dann auch zum Song, der leitmotivisch durch die Episoden führt. „It is what it is‟, heißt es einmal in diesem. Was eigentlich auch nur eine anders formuliert bedeutet: We are what we are.
Stefan Stiletto
We are who we are - Italien, USA 2020, Regie: Luca Guadagnino, Homevideostart: 07.03.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 8 x 58 bis 75 Min. Buch: Paolo Giordano, Francesca Manieri, Luca Guadagnino. Kamera: Frederick Wenzel, Yorik Le Saux. Musik: Devonté Hynes. Schnitt: Marco Costa. Produktion: The Apartment – Wildside, Small Forward. Anbieter: Starzplay. Darsteller*innen: Jack Dylan Grazer (Fraser), Jordan Kristine Seamón (Caitlin), Chloë Sevigny (Sarah), Alice Braga (Maggie), Scott Mescudi (Richard), Spence Moore II (Danny), Faith Alabi (Jenny) u. a.
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