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Wir für immer

Auf ARD plus: Jann kümmert sich mit Engelsgeduld um seine depressive Mutter Lina. Doch dann trifft er die hübsche Mitschülerin Selma.

Der Alltag des 17-jährigen Jann ist komplett durchgetaktet: Neben der Schule jobbt er als Gabelstaplerfahrer, geht einkaufen, managt den Haushalt und kümmert sich aufopferungsvoll um seine alleinerziehende Mutter Lina. Denn seit dem Suizid ihrer Schwester vor zehn Jahren hat diese eine bipolare Störung und soll regelmäßig Medikamente einnehmen. Mal ist sie kreativ und sprunghaft, will frühmorgens mit Jann auf dem Garagendach frühstücken, mal wird sie depressiv, verkriecht sich oder gerät in Panik. Weil sie schlecht allein sein kann, versucht Jann so oft und so lange wie möglich zu Hause zu sein.

Von seinem Vater Frank, der immerhin Alimente zahlt, hat er keine nennenswerte Hilfe zu erwarten, der ist mit seiner neuen Familie ausgelastet. Jann ist erschöpft und tendenziell überfordert, doch dann lernt er die hübsche Mitschülerin Selma kennen, die so schön Cello spielt. Selma verliebt sich in den Jungen, der sich so distanziert verhält. Doch so schnell lässt sie sich nicht abweisen und ergreift die Initiative.

Von nun an ist der Jugendliche im sechsten langen Spielfilm des Regisseurs Johannes Schmid, der bisher vor allem solide Kinderfilme wie „Wintertochter“ und „Geschichten vom Franz“ gedreht hat, im Zwiespalt. Beide Frauen beanspruchen seine Zuwendung und Zeit. Dabei zeigt Selmas Hartnäckigkeit schnell Wirkung: Durch sie entdeckt der Außenseiter, dass das Leben mehr bietet als Schule, Haushalt und Care-Arbeit für die kranke Mutter. Mit Notlügen und einem Schlafmittel verschafft sich Jann Freiräume, um die Mitschülerin treffen und kennenlernen zu können. Doch Lina kriegt Janns Tricks und die Annäherung zwischen den Jugendlichen bald mit und betrachtet das Mädchen als Rivalin. Zugleich gerät das fragile Arrangement zwischen Mutter und Sohn aus der Balance.

Johannes Schmid, der das Drehbuch zu dem Fernsehfilm mit seinem Bruder Thomas geschrieben hat, erzählt weitgehend aus Jans Sicht. Die packende Kombination aus Psychodrama und Coming-of-Age-Film rückt dabei ein auf den Kopf gestelltes Eltern-Kind-Verhältnis in den Fokus: Hier sorgt der Sohn für die Mutter. Jan wirkt denn auch deutlich reifer als andere Jungen in seinem Alter. Dennoch macht die gefühlvolle Inszenierung klar, dass er in eine Sackgasse der Verantwortung geraten ist und sich nicht allein aus der geradezu toxischen Abhängigkeitsbeziehung befreien kann. Erst die aufkeimende Romanze mit Selma öffnet ihm die Augen, erst durch sie kann er das Verhältnis zu Lina differenzierter betrachten und sich aus der mütterlichen Umklammerung lösen.

Auf dem Weg zur Selbstermächtigung hilft die souverän ins Bild gesetzte Spiegelung der persönlichen Schicksale, die die Anziehungskräfte zwischen Selma und Jann verstärkt sowie der sanften Liebe existenzielle Tiefe verleiht. Denn beide haben enge Angehörige mit schweren Beeinträchtigungen. Als Selma erkennt, wie selbstlos Jann seine Mutter betreut, nutzt sie die Chance und fährt mit den beiden nach langer Zeit mal wieder zu ihrem Bruder, der im Rollstuhl sitzt und in einem Pflegeheim am Meer lebt.

Das kammerspielartig inszenierte Beziehungsdreieck zwischen Jann, Lina und Selma ist abgesehen von wenigen heiteren Momenten in eine wehmütige herbstliche Atmosphäre gebettet, die wesentlich von einer dezenten Musikbegleitung getragen wird. Diese setzt immer wieder einfühlsame Akzente, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Die Figuren bewegen sich oft unter grauen Wolken im Regen, in der Dunkelheit oder in fahlem Licht, die Sonne lässt sich kaum blicken. Die Farbpalette der Ausstattung der Innenräume wirkt oft unterkühlt. Umso mehr kann sich die ruhige Kamera von Michael Bertl auf Mimik und Gestik der Hauptdarsteller*innen konzentrieren.

Vor allem der 2004 geborene Philip Günsch, der zum ersten Mal eine Filmhauptrolle verkörpert, erweist sich als Toptalent, wenn er den seelischen Druck und die innere Zerrissenheit Janns auf die Leinwand bringt. Ebenso gern sieht man der 21-jährigen Mina-Giselle Rüffer zu, die bereits für ihre Leistung in der fünften Staffel der Serie „Druck“ 2021 einen Grimme-Preis gewonnen hat. In „Wir für immer“ punktet ihre Selma insbesondere mit ihrer Schlagfertigkeit und ihrem emanzipatorischen Drive, denn fast immer ergreift sie die Initiative, wenn sie den schüchternen Jann trifft. Die Charakterdarstellerin Marie Leuenberger schließlich zeigt eine Glanzleistung, wenn sie die Stimmungswechsel und manischen Züge der psychisch labilen Lina spürbar werden lässt: Man weiß nie, was sie als Nächstes anstellen wird.

Besonders gelungen an diesem Fernsehfilm über eine dysfunktionale Familie ist, wie leise er ein schmerzliches Ringen um Selbstbestimmung schildern kann, ohne zu dramatischen Zuspitzungen zu greifen. Und wie einfühlsam er zeigt, wann eine tiefe Liebe an ihre Grenzen stößt und die Last der Verantwortung für einen Jugendlichen zu groß wird. Manchmal zeigt sich die größte Liebe im Loslassen.

Reinhard Kleber

© ARD plus
14+
Spielfilm

Deutschland 2024, Regie: Johannes Schmid, Homevideostart: 01.10.2025, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 89 Min. Buch: Johannes und Thomas Schmid. Kamera: Michael Bertl. Musik: Michael Heilrath. Schnitt: Bernd Schlegel. Produktion: Philipp Budweg/Lieblingsfilm. Verleih: ARD plus. Darsteller*innen/Mitwirkende: Philip Günsch (Jann), Lina (Marie Leuenberger), Selma (Mina-Giselle Rüffer), Frank (Steffan Maaß), Ben (Vincent Hahnen), u. a.

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