Der Brief für den König
Auf Netflix: Die Serie löst sich selbstbewusst von der berühmten Vorlage und ist zugleich Fantasyspektakel und Coming-of-Age-Geschichte.
Tiuri ist 15 Jahre alt, nun soll er nach dem Willen seines Vaters Ritter werden. Doch weder das Kämpfen mit Schild und Schwert noch das Gehabe der anderen Noviz*innen, die dem Kräftemessen viel Stolz und eitles Machtgehabe abgewinnen, interessieren Tiuri. Hinzu kommt: Der Jugendliche mit der auffällig dunkleren Hautfarbe kennt seinen wahren Vater nicht, seine Mutter hüllt sich in Schweigen und drängt ihn, seine „wahre Identität“ im Ritterdasein zu suchen. Wie aber soll man zu sich selbst finden, wenn man voller Zweifel ist? Wenn der Ziehvater Tiuris Siege mit Geld erkauft und einem die letzte Nachtwache vor dem Ritterschlag gar nicht zusteht? In dieser dunklen Stunde, die die Noviz*innen schweigend verbringen sollen, zeigt sich Tiuris wahre Stärke. Als es an der Tür klopft, eilt er selbstlos zu einem sterbenden Ritter und übernimmt nach erstem panischen Zögern dessen Auftrag: Tiuri soll einen wichtigen Brief zum fernen König bringen. Vom Erfolg der Mission hängt ab, ob ein Krieg verhindert werden kann.
Für Tiuri beginnt eine lange, unvorhersehbare Reise auf dem Rücken des eigensinnigen Pferdes Ardanwen, das ihn mehrfach aus lebensgefährlichen Situationen rettet. Denn nicht nur die Roten Ritter des übermächtigen Feindes jagen ihn erbarmungslos, um die Zustellung des Briefes zu verhindern, bei jeder neuen Begegnung kann er sich nie sicher sein, ob man ihm helfen oder ihn betrügen, bestehlen oder ausliefern will. So muss sich Tiuri vielfach bewähren. Seine Mission wird zur archetypischen Heldenreise, wie sie vor ihm schon viele auf sich nahmen: die Artus-Ritter der Tafelrunde, aber auch Frodo Beutlin, Luke Skywalker, Harry Potter oder Jon Schnee.
„Der Brief für den König“ basiert auf dem gleichnamigen Jugendroman der niederländischen Schriftstellerin Tonke Dragt aus dem Jahr 1962. Es war ihr erster Roman, und er wurde gleich ihr berühmtester: 2004 wurde der tolle Schmöker in den Niederlanden mit dem „Griffel der Griffel“ ausgezeichnet, einer ganz besonderen Ehrung im Rahmen des niederländischen Staatspreises für Literatur. Seitdem gilt „Der Brief für den König“ als das beste Jugendbuch der letzten 50 Jahre.
Tonke Dragt kam 1930 in Batavia, dem heutigen Djakarta, zur Welt. Seit fast 60 Jahren schreibt sie nun ihre erfolgreichen Jugendromane, die sie in weit zurückliegenden oder auch in zukünftigen Welten ansiedelt. Dabei durchdringen sich die Handlungsebenen an der Schwelle von Fantasie und Traum, getragen von Erinnerungen oder Visionen, wobei nichts oder aber alles „real“ ist in den literarischen Erfindungen. Immer wieder geht es Tonke Dragt um die Suche nach Identität, wobei ihre verschachtelten Geschichten wie bei Michael Ende oft wie „Spiegel im Spiegel“ funktionieren.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie als Jugendliche mit ihrer Familie in einem japanischen Gefangenenlager interniert: „Hunger und Elend, wohin man nur sah“, erinnerte sie sich. „So erfand ich in meiner Fantasie Geschichten, die in einer weiten Ferne spielten, Geschichten voller Abenteuer und ohne Stacheldraht.“ Unter diesem Aspekt bekommt die Erzählweise in „Der Brief für den König“ eine besondere Bedeutung, denn auch Tiuri ist ja zu Beginn eingesperrt, als ihn der Hilferuf des sterbenden Ritters ereilt. Lange bleiben die Umstände rätselhaft, nur schrittweise füllt sich die karge Ausgangssituation mit Details, Informationen und Ausschmückungen, so als würde sich auch die Autorin etappenweise von den Schwingen ihrer Fantasie vorantreiben lassen.
Schon einmal wurde „Der Brief des Königs“ 2008 unter der Regie von Pieter Verhoeff fürs Kino verfilmt, jetzt entstand aus dem Roman eine sechsteilige, aufwändig produzierte und üppig ausgestattete Fantasy- und Abenteuerserie mit viel Kampfgetümmel und kriegerischem Bombast. Ein bisschen wirkt das so, als würde es um den „Herrn der Ringe“ und die Schlacht vor den Toren von Minas Tirith gehen. Tonke Dragt dürfte sich verwundert die Augen reiben: Ob sie selbst hinter alldem noch ihren Roman erkennt?
In der Fantasy-Serie ist alles viel konkreter und spektakulärer. Der im Roman eher im Hintergrund brodelnde Konflikt zwischen diversen Ländern, einem König und seinen Söhnen, von denen der eine loyal, der andere aber ein dämonischer, von einer apokalyptischen Prophezeiung getriebener Schurke ist, stülpt sich mit visueller Wucht über Tiuris Aufgabe. Auch gibt es jetzt viel Magie, von der Macht schamanistischer Zauberer ist die Rede, was es im Roman so nicht gibt. Eigentlich ändert der Brief auch nur wenig am Ausgang der Ereignisse, was aber kein Nachteil ist. So bleibt Tiuri bis zum Ende ein „schwacher“ und damit ein sehr menschlicher Held, ist klug und sympathisch, selbst wenn er zögert und zaudert und seine begrenzten Fähigkeiten mitunter falsch einschätzt. Stets ist er auf die Hilfe anderer angewiesen, doch viele zwielichtige Menschen, denen er begegnet, sind alles andere als hilfreich. Die übrigen jungen Ritternoviz*innen, die Tiuri folgen und ihn zurückbringen sollen (und die es im Roman auch nur am Rande gibt), sind reizvolle Figuren, weil auch sie ihre Probleme haben und sich im Lauf des Abenteuers für die eine oder andere Seite entscheiden müssen. Vor allem ist es die junge selbstbewusste Lavinia, die jetzt eine viel wichtigere, ja sogar magische Rolle spielt und eine Riege neuer, interessanter weiblicher Figuren anführt.
Vieles ließe sich an der Serie aussetzen, die ein typisches Fantasy-Produkt unserer heutigen Zeit ist, die oft den Überblick über Figuren und Sujets verliert und am Ende sogar recht lieblos mit den Charakteren umspringt. Und doch überzeugt sie im Blick auf die jugendlichen Protagonist*innen, die sich im Kern mit sehr gegenwärtigen Problemen herumschlagen müssen, nach Anerkennung, Freundschaft und (erster) Liebe suchen und die hohen Erwartungen ihrer Eltern immer weniger erfüllen können und wollen. Womöglich wäre Tonke Dragt gerade deshalb am Ende dann doch ein wenig stolz, weil hinter aller Spannung, dem Pomp und der heftigen Magie ihre im Grunde einfache, aber wichtige Coming-of-Age-Fabel immer noch aufscheint.
Horst Peter Koll
The Letter for the King - Niederlande 2020, Regie: Alex Holmes, Charles Martin, Felix Thompson, Homevideostart: 20.03.2020, FSK: ab , Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit 252 Min. Buch: Willam Davies, nach dem gleichnamigen Roman von Tonke Dragt. Kamera: Petra Korner, Larry Smith. Musik: Brandon Campbell. Schnitt: Jesse Parker, Oral Norrie Ottey. Produktion: FilmWave. Anbieter: Netflix. Darsteller*innen: Amir Wilson (Tiuri), Ruby Ashbourne Serkis (Lavinia), Gijs Blom (Prinz Viridian), Nathanel Saleh (Piak), Thaddea Graham (Iona) u. a.