Magische Momente | | von Horst Peter Koll
Umarme mich!
Zwei Szenen aus „Zirkuskind“ (Anna Koch, Julia Lemke, 2025)
Sich in die Arme nehmen, das hat etwas Magisches. In diesem Dokumentarfilm ist es der Ur-Opa, der seinen Enkel immer wieder umarmt. Scheinbar beiläufige Szenen, die aber ganz viel erzählen und ganz viel ausstrahlen.
„Willkommen in der Arena der Attraktionen!“ Turbulent und kurzweilig erzählt der Dokumentarfilm „Zirkuskind“ (2025) von Julia Lemke und Anna Koch spannende Geschichten aus dem Alltag eines kleinen Familienzirkus. Im Mittelpunkt steht der zehnjährige Santino, der begeistert seine Aufgaben und Talente, vor allem aber seine Familie vorstellt. Aufmerksam folgt der Film ihm dabei, beschreibt das ständige Weiterziehen, die häufigen Schulwechsel, die Tradition des Zirkus, auch das Leid, das die Familie mit Sinti- und Roma-Wurzeln erfahren musste. Doch über alldem steht der Zusammenhalt der Familie. Wobei für Santino insbesondere sein Ur-Opa ein wichtiger Kompass ist: Der freundliche 80-Jährige, den alle „Opa Ehe“ nennen, erklärt dem Jungen die (Zirkus-)Welt, erzählt, wie alles anfing, wie es im Dritten Reich war und wie sehr er seine Frau liebte. Sanft, unsentimental und ohne zu klagen gibt Opa Ehe seine Erfahrungen an Santino weiter.
Und dann geschieht immer wieder mal etwas, das nur auf den ersten Blick als selbstverständlich erscheint: Der alte Mann und sein Urenkel nehmen sich in die Arme. Für einen stillen Moment halten sie inne und genießen diesen kleinen, großen Moment der Nähe.
Einmal beschwert sich Santino bei seinem Ur-Opa: Er habe ihm die ganze Zeit einen guten Morgen gewünscht, warum er ihm denn nicht geantwortet habe? „Entschuldigung“, sagt Opa Ehe unaufgeregt und fügt hinzu: „Ich liebe dich, komm in meine Arme.“ Was Santino nur zu gerne tut. Ein anderes Mal hat Opa Ehe Santinos Geburtstag vergessen. „Da muss dir dein Opa ja nachher noch ein Geschenk bringen“, sagt er, was Santino vehement zurückweist. Auf Ur-Opas Rückfrage erklärt er: „Weil ich glücklich bin, dass du da bist.“ Und wieder fallen sie sich in die Arme. Das hat nie einen Hauch von Pathos oder Sentimentalität, im Gegenteil: Diese Umarmungen, man fühlt es, sind aufrichtig und tief.
Natürlich sind Umarmungen oft in Kinderfilmen zu sehen, selten aber erlebt man sie so innig und wahrhaftig wie in „Zirkuskind“. Santino versinkt förmlich in den Armen von Opa Ehe, während dieser ihm mit der Hand sanft über den Rücken streicht. Santino genießt es, er fühlt sich geborgen, aufgehoben, aufgefangen.
Wie leicht könnte es auch ganz anders sein? Nämlich, dass man alte Menschen, etwa die Großeltern, eher nur pflichtschuldig umarmt, dass einen der fremde, „alte“ Körpergeruch intuitiv sogar abschreckt, wenn man unvermittelt damit in Hautkontakt kommt. Santino jedoch schreckt keine Sekunde vor Opa Ehe zurück, vor dessen braunen Altersflecken auf Schulter und Armen, den dunklen Stellen auf den Händen. Ganz nah kommen sich der Junge und der Alte, und unwillkürlich kommt einem Erich Kästners wunderbarer Satz aus dem „doppelten Lottchen“ in den Sinn: „Sie sind, wie es manchmal heißt und ganz selten vorkommt, nicht von dieser Welt.“
