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Interviews | | von Holger Twele

„Immer etwas ausprobieren, was uns ein kleines bisschen Angst macht“

Die Regisseurinnen Julia Lemke und Anna Koch

Mit ihren jungen Protagonist*innen waren sie im Ring, in der Rodeo-Arena, in der Zirkusmanege: Drei Dokumentarfilme über Kinder und Jugendliche und für Kinder und Jugendliche haben die Regisseurinnen Julia Lemke und Anna Koch bislang gedreht und sich damit einen Namen gemacht. Im Werkstattgespräch mit Holger Twele erzählen sie über ihre Zusammenarbeit, ihre Schwerpunkte, ihre Vorbilder und ihre Herangehensweise.

Anna Koch und Julia Lemke studierten an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), Anna Koch im Fach Regie, Julia Lemke im Fach Kamera. Ihr gemeinsamer Abschlussfilm „Schultersieg“ (2016) begleitete vier junge Ringerinnen an der Sportschule Frankfurt/Oder auf ihrem Weg und wurde bei den Internationalen Hofer Filmtagen mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Im Mittelpunkt von „Glitzer & Staub“ (2020) standen vier Cowgirls zwischen 9 und 17 Jahren, die sich in der männerdominierten Welt des Rodeo-Sports in den USA behaupten wollen. Der Film wurde beim 41. Filmfestival Max Ophüls Preis uraufgeführt. Für ihren dritten gemeinsamen Dokumentarfilm „Zirkuskind“, der im Rahmen der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ gefördert wurde und seine Weltpremiere in der Sektion Generation Kplus der Berlinale 2025 feierte, begleiteten sie ein Jahr lang den elfjährigen Santino während einer Tournee des traditionsreichen Zirkus Arena.

Julia Lemke und Anna Koch
Julia Lemke und Anna Koch, Quelle: privat

Kennengelernt habt ich euch beim Studium an der dffb. Könnt ihr mehr darüber erzählen, welche Interessen sich da ergänzt haben und welche konkreten Ziele ihr hattet?

Julia Lemke: Wir haben uns direkt beim Drehen kennengelernt. Wir kannten uns vorher kaum und haben an der dffb zusammen ein Dokumentarfilm-Seminar besucht, obwohl wir vorher noch keine Dokumentarfilme gemacht haben. Dann ist eines zum anderen gekommen. Während des Seminars haben wir die ersten Protagonistinnen unseres Films „Schultersieg“ kennengelernt. Diese standen kurz vor dem Umzug an den Olympiastützpunkt in Frankfurt/Oder, um dort Ringerinnen zu werden. Wenn wir also einen Film darüber machen wollten, mussten wir 2013 sofort anfangen zu drehen. Wir haben uns und unsere Arbeitsweise also tatsächlich erst während dieser Dreharbeiten kennengelernt.

Unser gemeinsames Interesse war, dass es ein solches Bild von Mädchen bisher kaum gab, also Mädchen, die aktiv in die Aggression gehen, so würde ich es ausdrücken. Damit war der erste Grundstein für uns gelegt. Erst in dieser Zusammenarbeit haben wir gelernt, was Dokumentarfilm überhaupt heißt, und daran haben wir später angeknüpft.

Seit „Glitzer & Staub“ zeichnet ihr gemeinsam für Regie und Drehbuch verantwortlich. Gibt es – abgesehen von der Kameraarbeit – eine Aufgabenverteilung?

Anna Koch: Den allergrößten Teil entscheiden wir zusammen. Aber natürlich hat jede ihre Stärken und nach unserer langen Zusammenarbeit haben wir ein gutes Gefühl, wann wer das Zepter übernehmen sollte, weil es um die jeweiligen Stärken geht. Aber es ist tatsächlich so, dass wir fast alles gemeinsam abstimmen, nicht so eine klassische Aufteilung machen, mal gehst du zum Drehen, mal ich. Nur in der Postproduktion teilen wir uns oft auf in Sound und Bild, falls es nicht anders geht.

Ihr konzentriert euch bisher auf Dokumentarfilme, in denen junge Menschen im Mittelpunkt stehen. Habt ihr das als Nische entdeckt oder standen andere Überlegungen im Vordergrund?

Julia Lemke: Der erste Film ist einfach passiert, ohne viel darüber nachzudenken. Durch diesen haben wir aber gemerkt, dass es eine Nische ist, etwa durch Filmfestivals, die wir beide zuvor noch gar nicht kannten. Wir hatten beide schon immer eine Passion für Coming-of-Age im Bereich des Spielfilms. Dann haben wir gesehen, das es auch Coming-of-Age im Dokumentarfilm gibt und da noch viel zu machen ist. Unsere Idee war zugleich, das mit einem größeren filmischen Anspruch zu verbinden, in den Bildern und im Sounddesign. Nach dem Film in Frankfurt/Oder war uns klar, dass wir dafür größer werden mussten. So gingen wir nach Amerika zu den Cowgirls und haben das damals auch schon eindeutig als Jugendfilm finanziert. Dann kam Corona, das war ein bisschen Pech, aber auch „Zirkuskind“ ist darauf konzipiert, in die Finanzierung für Kinder- und Jugendfilme zu gehen. Das Gleiche gilt für die Auswertung.

Filmstill aus Glitzer & Staub
"Glitzer & Staub" (c) Flare Film, Julia Lemke

Wie wichtig sind Dokumentarfilme für Kinder und ein junges Publikum, die nicht nur für das Fernsehen, sondern auch für das Kino gemacht wurden?

Anna Koch: Ich frage mich immer mehr, ob das zwangsläufig so sein muss. Der Dokumentarfilm hat es im Kino schon schwer und der Kinder- und Jugend-Dokumentarfilm noch zusätzlich. Eigentlich macht man Filme, damit sie auch gesehen werden. Mein Eindruck ist, dass das Kino durch das Finanzierungs- und Förderungsmodell wie eine Krücke vorgegeben ist.

Grundsätzlich glauben wir daran, dass es wichtig ist, auch lange dokumentarische Formate für ein junges Publikum zu machen. Es ist ein Erlebnis, diese dann nicht am helllichten Tag auf dem Laptop zu sehen, sondern in einem großen abgedunkelten Raum mit vielen Menschen, wo man nicht ausweichen kann. Das ist eine ganz andere Erfahrung, die große Kraft entwickelt, gerade wenn man weiß, diese Menschen sind echt und die Entscheidungen, die sie treffen, und ihre Probleme und Gefühle ähneln vielleicht auch meinen eigenen. Das macht etwas mit einem. Daher hat der Dokumentarfilm einen ganz besonderen Stellenwert im Kinder- und Jugendbereich, wobei noch gar nicht alles richtig ausgeschöpft wurde. Da gibt es noch viel zu tun.

Gab es diesbezüglich konkrete Vorbilder?

Julia Lemke: Natürlich haben wir viele Filme im Studium und bis heute gesehen. Einige von ihnen haben wir mehrfach geschaut. Irgendwann fingen wir an, Kinder- und Jugend-Dokumentarfilme explizit zu recherchieren. Wenn man nicht gerade auf einem einschlägigen Festival ist, ist es wahnsinnig schwer, solche Filme zu finden, denn sie haben wenig Auswertung und wenige Plattformen. Was fällt einem spontan ein, wenn man auch nur drei aktuelle Filme aus diesem Bereich nennen soll? Da fällt einem gerade mal „Checker Tobi und das Geheimnis der fliegenden Flüsse“ (2023) ein, aber dessen Erfolg lässt sich auch damit erklären, dass Checker Tobi eine Marke ist. Unsere Vorbilder kommen aus allen Bereichen, aus dem Spielfilm, dem Dokumentarfilm für Erwachsene, der Kunst, der Musik, aus allem.

Wie wählt ihr die Filmstoffe aus? Wie seid ihr ausgerechnet auf Ringen, Rodeo und Zirkus gekommen?

Anna Koch: Da gibt es tatsächlich eine Verwandtschaft. Was diese Orte alle gemeinsam haben – und dafür haben wir eine Schwäche – sind strikte traditionelle Strukturen, die männerdominiert sind und in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, seien es Mädchen oder auch ein Junge wie in „Zirkuskind“. Im Vergleich zu unserer eigenen Biografie sind das Welten, die uns fremd sein müssten. Aber es interessiert uns dennoch, wie diese Welten funktionieren und da mit einem offenen Blick und vielen Fragen reinzugehen und zu sehen, wie Kinder geprägt werden, die darin groß werden.

Julia Lemke: Wir entwickeln uns natürlich weiter und mit dem dritten Film haben wir strategischer gedacht. Der erste Film war komplett aus dem Bauch, beim zweiten Film wollten wir eine Stufe weitergehen und etwas Schwierigeres für uns machen. Und beim dritten Film haben wir uns überlegt, wie wir Menschen ins Kino bringen, wie wir Publikum bekommen für einen Kinder-Dokumentarfilm. Da wir nicht Checker Tobi sind, brauchten wir ein publikumswirksames Setting. Es gab also drei Auswahlkriterien: Womit schaffen wir die Finanzierung? Was interessiert uns? Und wie bekommen wir ein Publikum dafür?

Ihr arbeitet bei den Dreharbeiten in kleinem Team. Ist das eine Voraussetzung für die Authentizität der Filme?

Anna Koch: Beim Drehen ist uns wichtig, dass wir uns wohlfühlen und genauso die Protagonist*innen. Oft gibt es nicht die Zeit, vorab lange Beziehungen aufzubauen und dann erst zu drehen. Wir gehen vom Thema aus und suchen uns dann die richtigen Protagonist*innen. Die Beziehung entsteht erst beim Drehen. Große Teams machen mir Druck, weil man dann ganz verschiedene Menschen koordinieren muss. Zum anderen ist es auch für die Protagonist*innen einfacher, sich auf wenige Menschen einzustellen oder diese mal zu ignorieren. Dazu kommt noch, dass wir häufig an Orten drehen, die wenig Platz haben. Und dann ist es toll, mal zu sagen, wir können auch nur zu zweit in diesen Wohnwagen. Oder bei einer Autofahrt kann man sich super gut klein machen. Wenn wir den Ton noch irgendwie einbauen können, kann auch Julia mal allein mit der Kamera dabei sein. Es hat also viele Vorteile, aber auch mit unserer Vorliebe zu tun. Es gibt uns eine maximale Flexibilität, um dabei zu sein bei dem, was passiert.

Julia Lemke: Wir haben aus einer Not auch eine Tugend gemacht, da wir nicht so viel Zeit haben mit den Leuten vorher. Bei „Zirkuskind“ haben wir die Kamera gleich beim ersten Mal mitgebracht und aufgebaut. Alle werden also ein bisschen ins kalte Wasser geschubst, aber haben sich auch schnell daran gewöhnt.

Filmstill aus Glitzer & Staub
"Glitzer & Staub" (c) Flare Film, Julia Lemke

„Zirkuskind“ ist der erste Dokumentarfilm, der im Rahmen der Initiative Der besondere Kinderfilm entstand. Wie seht ihr diese Öffnung für den dokumentarischen Film?

Julia Lemke: Für uns war es ein großes Glück, dass wir Zeit hatten zu recherchieren und zu schreiben und dann relativ schnell in die Finanzierung gehen konnten. Problematisch ist daran, dass gerade bei Kinder- und Jugend-Dokumentarfilmen die Finanzierung noch schneller gehen müsste, weil die Kinder schnell älter werden. Das heißt, in dem Moment, wo man sie kennenlernt und sagt, die Protagonistin oder der Protagonist ist toll und jetzt möchten wir drehen, müsste es eigentlich einen schnelleren Weg geben, um dann wirklich drehen zu können. Da kann man nicht ein halbes Jahr warten, bis man eventuell finanziert ist.

Grundsätzlich hoffe ich, dass trotzdem ganz viele Dokumentarfilme über diese Initiative entstehen, weil das ein wahnsinnig gutes Konstrukt ist, man die ganze Zeit unterstützt wird und die Sichtbarkeit auch noch mal größer ist. Dem Dokumentarfilm die gleiche Relevanz zu geben wie dem Spielfilm, schafft die Möglichkeit, im Gespräch zu bleiben. Man stand vom ersten Moment an hinter uns und hat uns in die Öffentlichkeit gezogen. Genau das wünschen wir uns für den Kinder- und Jugend-Dokumentarfilm. Aber vielleicht müssen diese Filme einen eigenen Finanzierungslauf haben, anders als beim Spielfilm.

Die animierten Sequenzen mit den Erzählungen von Santinos Urgroßvater haben das Publikum besonders beeindruckt. War diese Form der Umsetzung von Anfang an konzipiert?

Anna Koch: Wir hatten vor „Zirkuskind“ schon ein anderes Projekt angedacht, aus dem dann nichts geworden ist und in dem mündliche Überlieferung, also Oral History eine große Rolle spielt. Bei diesem hatten wir schon mal mit dem Gedanken der Animation geliebäugelt. Dann traf es sich gut, dass das bei „Zirkuskind“ genauso ist, dass die Zirkusleute ihre großen Legenden mündlich überliefern. Es gibt in jeder Familie, die wir kennenlernten, einen unglaublichen Geschichtenerzähler oder eine Geschichtenerzählerin, die wie ein kollektives Gedächtnis die familiäre Identität im Blick hat. Im Zirkus Arena haben wir dann mit Ehe Frank den herausragendsten Erzähler getroffen. Zum Glück war die Animation schon vorher geplant, im Nachhinein wäre es schwierig gewesen zu sagen, wir haben eigentlich einen normalen Dokumentarfilm geplant und jetzt wollen wir 15 Minuten Animation machen. Das hätte den Rahmen gesprengt. Allein schon durch die lange Recherche, bis wir den richtigen Zirkus hatten, hat uns diese Konzeption geholfen.

Filmstill aus Zirkuskind
"Zirkuskind" (c) Flare Film

Ihr Erzählt in euren Filmen immer aus der Perspektive der jungen Protagonistinnen und Protagonisten. Aber auch die Eltern und Erwachsenen spielen eine Rolle, ohne den Eindruck zu wecken, sie würden die Kinder offen manipulieren.

Anna Koch: Dieser Aspekt war von Anfang an ein Thema. Schon bei den Ringerinnen in „Schultersieg“ haben wir uns gefragt, wie sie darauf kommen, diesen Wunsch zu entwickeln, auf eine Sportschule zu gehen und von zuhause auszuziehen. Wir sind damals zu dem Schluss gekommen, dass das ein elfjähriges Kind nicht für sich entscheiden kann, das ist immer auch eine Vorprägung von zuhause. Die Kindeswohlfrage war bei „Glitzer & Staub“ bei den Q&As eine Hauptfrage. Wie können die Eltern das verantworten, ihre Kinder in so gefährliche Situationen zu bringen? Für uns war immer wichtig zu zeigen, dass auch diese Erwachsenen aus bestimmten Gründen so geworden sind wie sie sind. Für sie hat das eine große Normalität und Richtigkeit. Es hat nichts mit Lieblosigkeit zu tun, sondern sie wollen etwas für sie sehr Schönes an die Kinder weitergeben. Darauf gibt es allerdings sehr unterschiedliche Reaktionen, insbesondere in Bezug auf die Erwachsenen, die zum Teil stark angegriffen wurden.

Julia Lemke: Ich glaube, dass viele Eltern ihre Kinder manipulieren, allein schon dadurch, was sie ihren Kindern vorleben. Man übernimmt das, was zuhause normal ist. Das heißt, die Eltern von den Ringer-Mädchen haben selbst schon gerungen, die Eltern von den Cowgirls waren Coyboys oder Cowgirls und beim Zirkus ist es das Gleiche. Bei mir zuhause ist es bei meinen Kindern nicht anders, diese denken, es ist normal, zur Schule zu gehen und herauszufinden, was man später machen will. Auch das ist im Prinzip bereits eine Manipulation. Unterschiedlich ist allerdings, wie extrem Eltern sind, in dem, was für sie normal ist.

Ihr konzentriert euch auf soziale Randgruppen, gebt Einblicke in eher unbekannte Milieus und stellt gängige Klischees infrage, etwa in Bezug auf Rollenbilder. Sind das eure Schwerpunkte geblieben oder hat sich der Fokus in den letzten Jahren verschoben?

Anna Koch: Als wir angefangen haben, war das Thema Rollenbilder für uns ganz präsent und total wichtig und wir fokussierten uns darauf, wie Mädchen anders erzogen werden, als wir es von uns selbst kannten. Als wir merkten, es gibt plötzlich eine Schwemme an Filmen, die einen ähnlichen Fokus hatten, fanden wir, das muss man nicht mehr ständig in den Vordergrund rücken. Das hat uns Freiraum gegeben, uns umzuorientieren und zu schauen, was uns sonst noch interessiert.

Es war für uns beide eine tolle Erfahrung, bei „Zirkuskind“ mit hauptsächlich männlichen Protagonisten zu arbeiten, sich für eine ganz andere Perspektive zu interessieren und darin ebenfalls das Ungewöhnliche zu finden. Wir erzählen von Männern, die die männlichen Attribute pflegen, stark zu sein und nicht zu jammern, gleichzeitig aber eine große Durchlässigkeit haben, eine große Wärme ausstrahlen und sich ihre Gefühle mitteilen können. Jeder Mensch möchte wohl so einen Opa haben, der einen aus dem Baum pflückt und einen so anschaut wie Opa Ehe. Diese Liebesfülle hat uns überrascht. Es war daher ein großes Geschenk für uns, hier einmal die andere Seite der Medaille zeigen zu können. Das hat sich aber zufällig ergeben. Wir hätten genauso gut einen Film über ein taffes Zirkusmädchen gemacht.

Möchtet ihr als Regieduo dem Dokumentarfilm für ein junges Publikum treu bleiben oder schweben euch in Zukunft ganz anders gelagerte Projekte vor?

Anna Koch: Wir haben auf jeden Fall Lust, auch mal fiktional zu arbeiten. Das liegt daran, dass wir immer etwas ausprobieren wollen, was uns ein kleines bisschen Angst macht. Bei „Zirkuskind“ waren es die Animationen, bei „Glitzer & Staub“ waren es die USA. Daher können wir uns vorstellen, dem Kinder-Dokumentarfilm auch mal untreu zu werden und dann wieder zurückzukehren. Grundsätzlich geht es für uns um Herausforderungen.

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