Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst
Im Kino: Anna kommt aufs Gymnasium – und bewegt sich zwischen sozialen Unterschieden, Selbsterkundungen und einer Mutter, die frisch verliebt ist.
Eine kleine Wohnung in einem Hochhaus eines Wiener Außenbezirks. Die 12-jährige Anna lebt dort mit ihrer gehörlosen Mutter Isolde. Ein eigenes Zimmer hat sie nicht. Nur widerwillig wechselt sie von der Mittelschule auf ein Gymnasium im ersten Bezirk, das vor allem Kinder aus wohlhabenderen Familien besuchen. Kurzerhand besorgt sich Anna noch einen gefälschten Ralph-Lauren-Pulli. Aber nicht nur die Klamotten ihrer Mitschüler*innen, sondern auch die schulischen Aktivitäten kosten viel Geld: Das Einkommen, das Isolde in einer Textilreinigung verdient, reicht nicht, um Anna die teure Ski-Freizeit zu bezahlen. Um das zu vertuschen, meldet sie ihre Tochter bei der Lehrerin krank. Als wäre das nicht genug, muss sich Anna auch noch mit Atila arrangieren – dem wortkargen neuen Geliebten ihrer Mutter, der nun häufiger zu Besuch kommt.
Kurz vor ihrem 13. Geburtstag beginnt Anna, sich mit den Veränderungen ihres Körpers und Fragen rund um Sexualität auseinanderzusetzen. Sie findet den smarten Mitschüler Paul attraktiv. Aber Paul fragt sie in der Straßenbahn: „Findest du auch, dass es zu früh ist, mit 13 Jahren Sex zu haben?“
An der Schule läuft es dafür endlich besser. In der eigenwilligen Mara, die mit forschen Worten gerne feministische Themen anschneidet, findet Anna eine Vertraute. Die beiden tanzen gerne oder verkleiden sich mit den Klamotten, die sie im Schrank von Maras alleinerziehendem, queeren Vater finden. Auch über intime Themen tauschen sich die beiden offen und neugierig aus. So verrät Anna Mara: „Ich steh nicht auf den Paul, ich möchte einfach er sein.“, fragt sie aber auch Dinge wie: „Hast Du schon Haare auf der Muschi?“.
In ihrem ersten langen Spielfilm erzählt die österreichische Regisseurin Marie Luise Lehner konsequent aus der Perspektive von Anna, das Mädchen ist in fast jeder Einstellung zu sehen. Die Kamera bleibt oft nah dran an Siena Popovic, die Anna mit großer Natürlichkeit verkörpert. So können sich die Zuschauenden leicht mit der Teenagerin identifizieren, die zwischen Unsicherheit und Wut, Scham und Aufbegehren schwankt.
Die 1995 in Wien geborene Filmemacherin, die auch das Drehbuch geschrieben hat, ist eine überaus kreative Künstlerin: Sie hat bereits zwei Romane veröffentlicht, weitere Drehbücher verfasst, preisgekrönte Kurzfilme gedreht und tritt seit 2013 mit der feministischen Punkband Schapka auf. In „Wenn Du Angst hast“ sind Songs und Tracks von überwiegend queeren Musiker*innen und Bands wie Tami T oder Bipolar Feminin zu hören. Manchmal liefern die Lieder sogar gleich einen Kommentar zum Filmplot mit! Auffällig ist zudem, wie groß die Bandbreite der musikalischen Stilformen ist: von Punk über Rock bis zum gefälligen Popsong ist hier alles dabei.
Im Zentrum des Films stehen zwei gleichwertige Handlungsstränge: die Bindung zwischen Tochter und Mutter, die Freundschaft zwischen den beiden Außenseiterinnen Anna und Mara, die sich gegenseitig Halt geben. Auch wenn Anna und Isolde sich gelegentlich in die Haare kriegen, so versöhnen sie sich auch schnell wieder. Das Gleiche gilt für Anna und Mara. Besonders bewegend ist das in einer Szene, in der die reumütige Anna nach einem Streit Mara zu Hause besucht, die beiden sich gegenseitig mit Schimpfwörtern überhäufen, sich aber dann doch tief in die Augen sehen und lächeln. Ohne ins Plakative oder Sentimentale abzudriften, zeigt der Film die Um- und Irrwege, die emotionalen Höhen und Tiefen der weiblichen Hauptfiguren auf, macht zugleich die tiefe emotionale Verbundenheit spürbar, die dabei hilft, Konflikte zu überwinden.
In dem kurzweiligen Mix aus Coming-of-Age-Film, Familiendrama und Jugendfilm sind Anna und Isolde von Mehrfachmarginalisierung betroffen. Immer wieder begegnen uns im Film Hinweise auf die großen Klassenunterschiede, auf Störerfahrungen, die Anna in ihrem Umfeld durch den Geldmangel der Familie erlebt. So hat Anna im Unterschied zu ihren Klassenkameradinnen noch kein Smartphone. Und als Anna bei einem Chorauftritt auf der Bühne die Texte für ihre Mutter in Gebärdensprache übersetzt – eine Szene, die an die französische Filmkomödie „Verstehen Sie die Béliers?“ (2014) erinnert –, schämt sich Isolde, dass sie das ausgebeulte gelbe T-Shirt und nicht die neue Second-Hand-Bluse trägt. Die Gehörlosigkeit der Mutter spielt im Film erfrischenderweise keine große Rolle. Anna kann gebärden und überbrückt wie selbstverständlich die Barrieren, die die hörzentrierte Gesellschaft ihrer Mutter in den Weg stellt.
Dass manche Dialoge etwas hölzern und aufgesagt klingen, gleicht „Wenn Du Angst hast“ durch seine große Sympathie für die Figuren wieder aus. Besonders sympathisch wirken die kleinen oder größeren Ausbrüche des Mutter-Tochter-Gespanns aus dem Alltag. Etwa wenn sie sich in einem schönen Hallenbad entspannen und der titelgebende, poetische Satz fällt. Oder wenn Anna und Mara am Schluss endlich den Freizeitpark Prater erobern, dessen glitzernde Fahrgeschäfte und Karussells zuvor nur als ferne Lichter über dem Häusermeer schwebten.
Reinhard Kleber
Österreich 2025, Regie: Marie Luise Lehner, Kinostart: 02.10.2025, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 88 Min., Buch: Marie Luise Lehner, Kamera: Simone Hart, Schnitt: Jana Libnik, Joana Scrinzi, Alexander Schneider, Produktion: Geyrhalterfilm, Verleih: Arsenal Filmverleih, Besetzung: Siena Popovic (Anna), Mariya Menner (Isolde), Jessica Paar (Mara), Alessandro Scheibner (Paul), Atila (Markus Schramm), Daniel Sea (Maras Vater), u. a.