Mein Sommer mit Irène
Entdeckt bei Generation 14plus: Sie sind jung, sie verstehen einander – und sie beschließen, das Leben auf einer abgelegenen Insel zu suchen.
Ein Sommercamp in Italien. Sie haben sich gerade erst kennengelernt und sind grundverschieden. Aber Clara muss nicht lang überlegen, als Irène sie fragt, ob sie mit ihr Urlaub machen würde. Am Meer wäre schön! Und tatsächlich sondern sich die neuen Freundinnen auf der Heimreise unbemerkt von ihrer Gruppe ab und fahren stattdessen auf eine abgelegene sizilianische Insel.
Das leuchtende Meer, die karge, wilde Landschaft mit ihren Höhlen im Felsgestein und verwilderten Hainen bilden die ideale Kulisse für ein unbeschwertes Sommerabenteuer der beiden Siebzehnjährigen, das mit der Ankunft einer Gruppe gleichaltriger Jugendlicher um eine romantische Komponente ergänzt wird.
Ein klassisches Coming-of-Age-Setting also – wären da nicht die Eingangsszenen, die Irène und Clara im Kreis weiterer junger Menschen zeigen, viele wie sie mit kurzen Haaren, mit Kopfbedeckungen oder Perücken, was auf die Behandlung von Krebserkrankungen hinweist, jedoch nicht konkret benannt wird. Das Sommercamp ist eine Rehaeinrichtung, Achtsamkeitsübungen inklusive sowie die Ermahnung, stets an ausreichend Sonnenschutz zu denken und sich nicht zu überfordern, vor allem, wenn die Therapie noch nicht lange her ist. Clara und Irène sind also rekonvaleszent. Dennoch ist „Mein Sommer mit Irène“ kein schwermütiger oder bedrückender Film, sondern erzählt in poetischen Sommerimpressionen von der Freundschaft und dem Lebensgefühl der beiden Teenagerinnen in ihrer Auszeit von der Realität.
In diesem begrenzten Zeitraum relativer Unbeschwertheit erleben die Freundinnen Normalität, so gut es ihr fragiler Zustand zulässt. Sie freunden sich mit den anderen Jugendlichen an, auch für eine erste Liebe, ein erstes Mal Sex findet sich Gelegenheit. Der Film erzählt dies wie alles andere völlig unaufgeregt. Komprimiertes Coming-of-Age, während gleichzeitig die Zeit unter der gleißenden Sonne stillzustehen scheint. So wirken die beiden Protagonistinnen wie „aus der Zeit gefallen“.
Carlo Sironi hat seinen zweiten Spielfilm (nach dem preisgekrönten Drama „Sole“, 2019) in die analoge Zeit des Jahres 1997 verlegt. Das entschleunigt, darüber hinaus verdirbt kein Handy die Flucht. Auch die teils blassen bis überbelichteten Bilder besitzen Retro-Charme. Diskret beobachtet die Kamera die beiden jungen Frauen, während deren symbiotische Freundschaft wächst. Clara und Irène geben aufeinander acht und wissen, was bei Kopfschmerzen oder Schwächeanfällen zu tun ist. Sie verstehen einander ohne viele Worte, können aber ebenso unbefangen über das reden, was sie umtreibt. Ein Mal klingt Bedauern an, wenn Irène Clara fragt, ob sie jemals an all die Dinge denkt, die sie nicht gemacht hat. „An all das, was alle außer mir erlebt haben“, erwidert sie.
In der Rolle der Irène gibt es ein Wiedersehen mit Noée Abita, deren intensives Spiel schon als Titelheldin des Dramas „Ava“ (2017, Lea Mysius) nachhaltig beeindruckte. Zwischen diesen Figuren gibt es Parallelen: Der wilden Rebellion der 13-jährigen Ava gegen den rapiden Verlust ihres Augenlichts entspricht Irènes Weigerung, sich von ihrer Krankheit das Leben diktieren zu lassen, wenn auch nur für eine Weile. Ihr zur Seite gestellt ist Maria Camilla Brandenburg, hochgewachsen, blass und blond ein optischer Gegenentwurf. Ein gutes Zweiergespann, das die nicht einfachen Figuren glaubhaft, sensibel und ohne Melodramatik spielt.
Mit einer Videokamera halten die zwei Momente ihrer Auszeit fest. Es sind keine spektakulären Situationen, sondern recht banale. Für eine kurze Zeit dürfen wir mit Clara und Irène teilen, wie besonders die Erfahrung von Alltäglichkeit ist.
Ulrike Seyffarth
Diese Kritik wurde im Rahmen der Berichterstattung über die Aufführung des Films bei Generation 14plus 2024 verfasst.
Quell’estate con Irène - Italien, Frankreich 2024, Regie: Carlo Sironi, Festivalstart: 18.02.2024, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 90 Min., Buch: Carlo Sironi, Silvana Tamma, Kamera: Gergely Poharnok, Schnitt: Chiara Dainese, Musik: Lionel Boutang, Produktion: Produktion: Kino Produzioni, Rai Cinema International (bd. Italien), Weltvertrieb: Fandango (Italien), Besetzung: Noée Abita (Irène), Maria Camilla Brandenburg (Clara), Claudio Segaluscio (Martino), Gabriele Rollo (Riccardo), Beatrice Puccilli (Elena), Anna di Luzio (Costanza), Maurizio Grassia (Luca)
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