Besties
Eine queere Liebesgeschichte aus einem Vorort von Paris, natürlich und lebensecht erzählt.
Nedjma hat alles: Ihr Viertel, ein Vorort von Paris, ihre besten Freundinnen, den besten Kumpel aus dem Kindergarten, mit dem sie Fußball spielt, ihre kleine Familie. Die verständnisvolle Mutter ist alleinerziehend, auf die kleine Schwester Leïla, 14 Jahre alt, passt Nedjma gut auf. „Die Leute reden“, sagt sie zu ihr, alles, nur nicht als „Schlampe“ gelten. Dann zieht in diesem Sommer Zina in die Wohnung nebenan. Sie ist die Cousine einer der Mädels aus der verfeindeten Gang, mit der Nedjma und ihre Freundinnen erbittert um die beste Bank im Park streiten. Die Tage vergehen mit Social-Media-Geläster, kleinen Streichen und Plänen für einen Ausflug ans Meer. Im Jugendclub lernt Nedjma Zina kennen. Man kann ihr dabei zusehen, wie sie sich in die Neue verliebt. Aber das geht nicht, die Feindschaft der Mädchengangs steht zwischen ihnen – und natürlich die Moral. Alles, bloß keine Lesbe sein. Zina erwidert Nedjmas Gefühle, sie ist freier, gibt nichts auf das Gerede. Aber Nedjma gerät massiv unter Druck. Als sie beim Küssen erwischt werden, wenden sich alle gegen Nedjma. Sie muss sich entscheiden, ist aber nicht bereit dazu.
Die Kamera ist Protagonistin Nedjma immer ganz dicht auf den Fersen. Mit ihr erleben wir ihre erste große Liebe, die sie im Verborgenen halten will, das heftige Auf und Ab, die Gefühlsstürme, die sie hinter ihrer rauen Schale zu verbergen sucht. In einer Szene reden die beiden Mädchen darüber, ob Weichsein Schwäche bedeutet, und sind unterschiedlicher Meinung. Sie verstehen dich nicht, sagt Zina und meint, dass niemand Nedjmas weiche Seite erkennt. Und Nedjma gesteht, dass sie immer vor allem Angst hat. Ihre zur Schau getragene Härte ist nur ein Schutzschild.
Das Langfilmdebüt der französischen Regisseurin Marion Desseigne Ravel kommt nah an die verwirrten Gefühlszustände der beiden Jugendlichen, findet dabei einen temporeichen Rhythmus, der zu dem transkulturellen Hochhausvorort passt. Entgegen anderen aktuellen französischen Produktionen wird dieser aber nicht als prekäre, konflikt- und gewaltreiche Parallelwelt erzählt, sondern ohne Sozialkitsch als sonnendurchfluteter Gemeinschaftsort, in dem es intakte gesellschaftliche Einrichtungen wie den Jugendclub gibt. Konflikte auf der Straße werden nur anfangs mit Gewalt ausgetragen – wie ein Streit zwischen den Mädchengangs –, schließlich aber über Gespräche ausgehandelt. Eine Annäherung findet tatsächlich statt.
Nebenbei erzählt der Jugendfilm auch von unterschiedlichen Generationen, von Eingewanderten und ihren Nachkommen. So kann Nedjmas Mutter beispielsweise die selbstauferlegten Regulierungen ihrer Töchter nicht verstehen: Während sie für Freiheiten aus Algerien ausgewandert ist, ist für die Mädchen das Schlimmste, wenn der Ruf geschädigt wird. Und letzteres ist sehr einfach im Zeitalter von Social Media. Ein böser Scherz gegen Zina, der viral geht, reicht aus, um sie als zu diffamieren. Keine der Verantwortlichen hinterfragt diese frauenfeindlichen Aktionen und Moralvorstellungen. Doch zeigt sich, dass hinter diesen Floskeln etwas anderes verborgen liegt: Ängste, Verletzungen, die wahren Gefühle.
Dank der großartigen Darstellerinnen wirkt alles natürlich und lebensecht. Dialoge, Musik, Tempo, Bildgestaltung – alles ist ebenso unaufgeregt wie passend. Nedjmas Lieblingsort ist das Dach des Hochhauses. In der Ferne glitzert das andere Paris, ein unerreichbarer Sehnsuchtsort – und doch liegt zwischen den Hochhäusern sehr viel Heimat. Protagonistin Nedjma kann schließlich ihren inneren Konflikt nur teilweise lösen und wählt einen dritten Weg. Dieser beinhaltet zwar keine Kampfansage an eine queerfeindliche Gesellschaft, ist aber ein entscheidender Schritt in Richtung Selbstfindung.
Christiane Radeke
Übrigens: Darüber, was „Besties“ und andere Filme auszeichnet, sprechen wir in Intersektionale Perspektiven im Film. Ein Beitrag, der im Rahmen der Themendossiers „Gender & Lieben“ sowie „Migration“ entstanden ist. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
Les Meilleures - Frankreich 2021, Regie: Marion Desseigne Ravel, Kinostart: 29.06.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 13 Jahren, Laufzeit: 80 Min. Buch: Virginie Cheval. Kamera: Lucile Mercier. Musik: Romain Kronenberg. Produktion: Delphine Schmit, Agnès Vallée, Emmanuel Barraux. Verleih: Salzgeber. Darsteller*innen: Lina El Arabi (Nedjma), Esther Rollande (Zina), Kiyane Benamara (Leïla), Mahia Zrouki (Samar), Azize Diabaté (Sidiki) u. a.