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Wo ist Anne Frank

Im Kino: Anne Franks imaginäre Brieffreundin Kitty erwacht in der nahen Zukunft zum Leben. Was bedeutet Anne Frank heute noch?

Gleich zu Beginn macht der Animationsfilm mit einem Textinsert deutlich, dass es hier um mehr geht als um eine Neuverfilmung des berühmten Tagebuchs von Anne Frank. Diese hatte sich mit ihrer jüdischen Familie ab 1942 gut zwei Jahre lang in einem Hinterhaus an der Prinsengracht in Amsterdam versteckt, wurde dann verraten und im Frühjahr 1945 kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Hannover ermordet. Das Hinterhaus ist längst zum Anne Frank Museum geworden und dort spielen auch viele Szenen des Films. Das Textinsert verweist darauf, dass der Film „irgendwann in naher Zukunft“ spielt. Er erzählt zwar auch die Leidensgeschichte von Anne Frank, doch im Mittelpunkt steht Annes imaginäre Freundin Kitty, der sie im Tagebuch ihre Sorgen und Sehnsüchte anvertraut hat. Kitty erwacht in der besagten nahen Zukunft zum Leben, findet das Tagebuch, das kurz vor dem Abtransport der Familie endet, und macht sich mit dem entwendeten Original auf die Suche nach Anne und ihrem weiteren Schicksal. Dabei wird sie von der Polizei und den Medien verfolgt, denen nur am Herzen liegt, das Schriftstück so schnell wie möglich wieder an seinen angestammten Platz im Anne Frank Haus zu bringen. In Peter, der genauso heißt wie Annes Freund im Tagebuch, findet Kitty schnell einen Verbündeten, der ihr zur Seite steht. Peter unterstützt Geflüchtete in der Stadt ohne gültige Aufenthaltspapiere und weiß genau, wie man sich vor der Polizei verstecken kann. Durch Peter lernt Kitty auch die kleine Awa genauer kennen, ein Flüchtlingsmädchen aus Mali.

Schnell findet Kitty auf der Suche nach ihrer Freundin heraus, dass Anne in der Stadt allgegenwärtig ist, etwa durch Denkmäler und Orte der Erinnerung, durch die Benennung von Schulen und Gebäuden nach ihr und sogar durch aktuelle Theaterinszenierungen. Diese Formen von Erinnerungskultur haben für sie jedoch einen seltsamen Beigeschmack. Sie zelebrieren Anne und heben sie auf ein Podest, doch den tieferen Sinn ihres Tagebuchs geben sie nur begrenzt wieder. Kitty erfährt zwar: Anne Frank ist überall. Und sie gibt allen Menschen auf der Welt Hoffnung.“ Wenn es aber darum geht, anderen aus derzeitigen Kriegsgebieten geflüchteten Kindern und ihren Familien zu helfen, die unfreiwillig ihre Heimat verlassen mussten, ist es mit der Solidarität oft nicht weit her. Kitty und Peter suchen nach einer Möglichkeit, diesen Menschen zu helfen.

Von der Idee, das Tagebuch von Anne Frank einer heutigen Generation zugänglich zu machen, bis zur Fertigstellung des Films sind fast zehn Jahre vergangen. Fünf Länder haben den Film koproduziert, 159.000 Zeichnungen in 15 Ländern sind entstanden. Bemerkenswert ist die Farbdramaturgie: Das heutige Amsterdam mitten im Winter erscheint fast farblos, während Annes Vergangenheit analog zu ihrer blühenden Fantasie in bunten Farben erscheint. Die Geschichte von Anne erzählt der Film anhand von Dialogen zwischen Anne und Kitty. Die letzten sieben Monate von Annes Leben bis zu ihrem gewaltsamen Tod werden ebenfalls erzählt, aber das steht natürlich nicht im Tagebuch. Dieser Teil wird von Kitty recherchiert, die Annes letzte Reise nacherlebt. Dazu gehören auch Episoden im Konzentrationslager Auschwitz, die der Unterwelt aus der griechischen Mythologie nachempfunden sind. Für diese Sagen hatte sich Anne besonders interessiert. Zugleich wird das Grauen in den Konzentrationslagern, das sich ohnehin nicht wirklich darstellen lässt, auf eine Ebene transportiert, die auch für Kinder verständlich ist. Denn dem israelischen Regisseur Ari Folman war sehr daran gelegen, dass sein Film bereits für ein junges Publikum verständlich ist und durch Kitty und Peter etwas mit der Lebenswirklichkeit von heutigen Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Das erklärt auch, warum Kittys Geschichte fast zeitgleich mit dem Animationsfilm als Graphic Novel entstanden ist, als Comic, und diese wiederum auf einer Fortsetzung des Graphic Diary von Annes Tagebuch beruht. Comics sind beliebt, ob das auch auf einen solchen Kinofilm zutrifft, bleibt abzuwarten. Anne jedenfalls war vom Kino total begeistert. Überall in ihrem Zimmer im Versteck hängen Fotos von Filmstars ihrer Zeit, sie wollte selbst Schauspielerin werden und schrieb in einem Brief aus dem Tagebuch an ihre Freundin Kitty: „Das Schlimmste ist, nicht ins Kino gehen zu dürfen.“ So gesehen sind Annes Träume wenigstens in diesem Animationsfilm wahr geworden. Und auch ihre Botschaft, die Kitty der Öffentlichkeit vor Augen führt, erhält einen sehr aktuellen Bezug: „Tu alles, was du kannst, um eine einzige Menschenseele zu retten.“ In einem Interview betonte Ari Folman jedoch ausdrücklich, dass sich der Holocaust in keiner Weise mit den aktuellen Flüchtlingsströmen vergleichen lässt. Er möchte mit dem Film darauf hinweisen, dass heute weltweit jedes fünfte Kind durch kriegerische Auseinandersetzungen bedroht ist. Und das ist ihm in der künstlerischen Umsetzung und mit den Figurenzeichnungen von Lena Guberman sehr gut gelungen.

Holger Twele

 

© Farbfilm Verleih
10+

Where Is Anne Frank - Belgien, Luxemburg, Frankreich, Niederlande, Israel 2021, Regie: Ari Folman, Kinostart: 23.02.2023, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 99 Min. Buch: Ari Folman, nach dem Tagebuch von Anne Frank und weiteren Archivmaterialien. Kamera: Tristan Oliver. Musik: Karen O, Ben Goldwasser. Schnitt: Eli Feller. Produktion: Samsa Film, AJH Films, Bridgit Folman Film Gang, Doghouse Films, Highly Spirited, KUK Films u. a. Verleih: Farbfilm Verleih

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