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Things We Dare Not Do

Entdeckt beim DOK.fest München: Ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm über eine*n Transgender-Jugendliche*n in einem mexikanischen Dorf.

Andere Länder, andere Sitten und Gebräuche. Genau das macht etwa ethnografisch angehauchte Filme, die den Lebensalltag von Kindern und Erwachsenen in fernen Ländern genau beobachten und mit der Kamera festhalten, auch für ein junges Publikum hierzulande interessant. Die Weihnachtsfeier beispielsweise in einem Dorf im mexikanischen Bundesstaat Nayarit an der Pazifikküste. Während in fast allen Mainstream-Filmen der Weihnachtsmann per Tricktechnik auf einem von Rentieren gezogenen Schlitten heranbraust, ist er hier in Live Action mit einem Paraglider-Leichtflugzeug unterwegs und wirft Bonbons zu den schon sehnlich wartenden Kindern hinunter. Diese sind den ganzen Tag draußen an der frischen Luft, es ist Hochsommer, sie spielen und tanzen ausgelassen, befinden sich in aufgekratzter Feststimmung. Arturo, von den Kindern liebevoll Ñoño genannt, leitet die Kinder an, betätigt sich als Entertainer und geübter Team-Player. Ñoño, schätzungsweise 16 bis 18 Jahre alt, wohnt noch bei den Eltern. Er passt auf die jüngeren Geschwister auf, kocht für sie, kämmt der kleinen Schwester die langen Haare und macht sie hübsch für das Fest. Bis fast zum Ende des Films hin fokussiert die Kamera weiter auf das Treiben der Kinder im Dorf und auf Arturo mit seiner Familie. Unvermittelt folgt sie nach den ersten zehn Minuten des Films der Hauptfigur in die Dämmerung an eine von Gestrüpp bewachsene Lagune. Vorsichtig um sich blickend streift sich Arturo die Oberbekleidung ab, zieht sich ein geblümtes Kleid an, betrachtet sich kurz darin und legt es gleich darauf wieder ab. Erst in diesem Moment beginnt der Film, Arturos Geheimnis zu lüften. Er/sie ist transgender, bezeichnet sich viel später selbst als schwul, sehnt sich danach, Frauenkleider zu tragen und möchte vor laufender Kamera seinen/ihren Vater endlich um Erlaubnis dafür bitten. Diese Szene im letzten Drittel des Films wirkt nicht gestellt, da der Regisseur die Familie schon lange mit der Kamera begleitet hatte. Lange kämpft der Vater stumm mit sich, während seinem Kind schon die Tränen kommen, bis er sich zu einer Antwort aufrafft.

Selbst in dieser Szene weicht der Film von der klassischen Erzähldramaturgie eines Dokumentarfilms ab, das einmal fixierte Thema und die Hauptfigur nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Denn das Dorffest in einer Mischung aus Weihnachtsfeier und Jahresabschlussfest steht unmittelbar bevor. Und da passieren andere aufregende Dinge. Luftballons werden aufgehängt, die Lieferung von Frischwasser über Lautsprecher groß angekündigt. Endlich spielt die Musik am Abend auf, ausgelassen tanzen die Kinder miteinander. Plötzlich sind mehrere Schüsse zu hören und die Musik bricht ab. Am nächsten Tag erzählen die Kinder, sie hätten gedacht, jemand hätte einen Feuerwerkskörper gezündet. Eher neugierig als betroffen stehen sie um die Blutlache des Getöteten herum, ein barfüßiger Junge tritt vorsichtig hinein. Auf ähnliche Weise sollen schon viele im Dorf gestorben sein – und das ganze Dorf ist natürlich zur Beerdigungsfeier eingeladen. Das Sterben gehört offenbar zum Lebensalltag dieser Kinder dazu, daran lässt der Film keinen Zweifel und das überrascht vielleicht. Aber wie in vielen anderen Teilen der Welt werden auch dort Minderheiten und Andersfühlende ausgegrenzt. Nach dem Outing wird Arturo im Dorf beschimpft. Die Szene ist vergleichsweise kurz und wenig dramatisch, Arturo muss seinen/ihren Weg woanders finden, auch da ist die Kamera mit dabei.

Für seinen zweiten Dokumentarfilm hat sich der Regisseur und Kameramann Bruno Santamaría Razo über mehrere Jahre hinweg auf das Leben in diesem Dorf eingelassen. Auf diese Weise gewannen er und Zita Effra, die für den Ton verantwortlich zeichnet und selbst bereits als Kamerafrau und Regisseurin tätig war, das Vertrauen der Bevölkerung. Die allgegenwärtige Aufnahmetechnik wurde offenbar kaum noch wahrgenommen. Den verbreiteten Klischees über das Leben in Lateinamerika wollte der Regisseur eine filmische Realität entgegensetzen, die von Farben, Geräuschen und Gefühlen bestimmt ist. Die Musik, hier alles andere als bloße Untermalung, spielt dabei eine tragende Rolle. Allein die Aufzählung der Musiker*innen im Abspann übertrifft die des gesamten Filmstabs bei weitem. Der besondere Blick, die einfühlsame Kamera und die ungewöhnliche Dramaturgie zeichnen den Film aus. Gefördert unter anderem von den Festivals in Sundance und Tribeca, gewann der Film weltweit schon mehrere Preise. Beim DOK.fest München 2021 lief er in der Sektion DOK.horizonte, wo er ebenfalls ausgezeichnet wurde.

Holger Twele

© DOK.fest München
14+
Dokumentarfilm

Cosas que no hacemos - Mexiko 2020, Regie: Bruno Santamaría Razo, Festivalstart: 05.05.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 75 Min. Buch: Bruno Santamaría Razo. Kamera: Bruno Santamaría Razo. Musik: Tomás Barreiro. Ton: Zita Erffa. Schnitt: Bruno Santamaría Razo, Andrea Rabasa. Produktion: Foprocine, Ojo de Vaca. Verleih: offen. Mitwirkende: Arturo – Ñoño und viele weitere Bewohner eines kleinen mexikanischen Dorfes