Norwegian Dream
Zum Schuften, zum Verdrängen ist Robert nach Norwegen gekommen. Nicht zum Verlieben! Doch seine Schutzmauern bröckeln, als er auf Ivar trifft.
Weit entfernt von der polnischen Heimat tritt der 19-jährige Robert auf einer norwegischen Insel seinen Job in einer Fischfabrik an. Der Druck ist groß, denn mit dem Gehalt möchte er nicht nur sich selbst, sondern vor allem auch der hoch verschuldeten Mutter ein besseres Leben ermöglichen. Und so erträgt Robert still die ungerechten Arbeitsbedingungen ebenso wie die Drangsalierungen durch die Vorgesetzten, die das polnische Personal als Menschen zweiter Klasse behandeln. Sein norwegischer Kollege Ivar ist ein Lichtblick inmitten der Tristesse des Fabrikalltags und der beengten Massenunterkunft mit den polnischen Kolleg*innen. Bei einem gemeinsamen Karaoke-Abend schließlich erscheint der junge Mann ihm in einem neuen Licht, wird vom potenziellen Freund zum romantischen Gegenüber. Doch Roberts Erfahrungen mit queerfeindlicher Gewalt in der polnischen Heimat stehen ihm bei der Beziehungsanbahnung im Weg. Wie kann er sich mit diesen traumatischen Erinnerungen und im homophoben Klima seines Kollegiums auf diese für ihn neue Erfahrung einlassen?
In „Norwegian Dream“ erzählt Regisseur Leiv Igor Devold eine schwule Liebesgeschichte im Kontext komplexer Machtdynamiken. Obwohl Ivar als Schwarze, queere Person innerhalb der Fabrikhalle durch die polnischen Arbeitsmigrant*innen Rassismus erfährt, steht er im gesamtgesellschaftlichen Machtgefüge als Kind des weißen Geschäftsführers Björn in der Hierarchie doch weit über Robert, der auf Grund seiner prekären Lebenssituation der Ausbeutung am Arbeitsplatz alternativlos ausgeliefert ist. Dabei legt der Film den Fokus auf die Migrationserfahrung der polnischen Hauptfigur sowie deren Mutter, thematisiert antislawischen Rassismus ebenso wie die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitsmigrant*innen in Norwegen – ein gesellschaftliches Klima, das sich ohne Weiteres auf Deutschland übertragen lässt.
Der Fokus auf Robert drückt sich auch in der Bildgestaltung aus, einer Handkamera, die zu Gunsten der Nähe zur Hauptfigur auf Totalen verzichtet und damit nicht nur Intimität, sondern auch ein bedrückendes Gefühl der Enge erschafft. Während der Film mit einer Aufnahme des weiten Meeres eröffnet, das Robert bei der Überfahrt auf die Insel hinter sich lässt, dominieren in „Norwegian Dream“ fortan enge Räume und menschliches Gedränge das Bild. Robert ist auf mehreren Ebenen gefangen: Als Migrant in Norwegen und als schwuler Mann in der polnischen Gesellschaft.
Die visuelle Enge spiegelt sich im narrativen Fokus wider: Während wir über Ivar zwar erfahren, wie seine beruflichen Träume und Vorliebe für Drag mit dem Männlichkeitsbild des Vaters kollidieren, räumt Regisseur Leiv Igor Devoid den Rassismuserfahrungen dieser Figur auffallend wenig Raum ein, beziehungsweise beschränkt sie auf den Fabrikalltag im polnischen Mikrokosmos der Fabrik. Einerseits zeigt „Norwegian Dream“ mit Ivar und Robert zwei Figuren, die eine auf unterschiedlichen Dimensionen angesiedelte Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung teilen und denen es trotzdem schwerfällt, den Schmerz des jeweils anderen anzuerkennen. Andererseits bleibt die gesellschaftliche Einbettung Ivars auf einen kurzen Ausflug in den Safe Space der örtlichen BIPoC Community beschränkt, was die Figur zwar stärkt, aber norwegischen Alltagsrassismus unsichtbar macht.
In „Norwegian Dream“ geht es um diese Liebe innerhalb eines ungleichen Systems, um die Hürden junger Menschen, deren Adoleszenzkrise nicht nur im Kampf um Unabhängigkeit von ihren Eltern und deren Vorstellungen besteht: Robert und Ivar müssen innerhalb eines ihnen feindlich gesinnten Umfelds zunächst sich selbst als queere Individuen finden, bevor sie einander als romantische Gegenüber erkennen und lieben können.
Die Liebesgeschichte in Verbindung mit der Identitätsfindung und den Emanzipationskämpfen macht „Norwegian Dream“ für ein jugendliches, insbesondere natürlich ein queeres Publikum besonders anschlussfähig. Fast beiläufig vermag der Film zudem politische Themen wie antislawischen Rassismus und Arbeitsmigration anzuschneiden und zu einer Diskussion derselben einzuladen. Dabei bietet es sich an, die Leerstelle von Ivars Rassismuserfahrungen zu füllen, in Beziehung zu Roberts Situation zu setzen und nicht nur die verschiedenen Ebenen der Machtdynamiken zu analysieren, sondern auch die alles entscheidende Frage zu stellen: Wie geht Liebe inmitten von Hass?
Sophie Charlotte Rieger
Übrigens: Darüber, was „Norwegian Dream“ und andere Filme auszeichnet, sprechen wir in Intersektionale Perspektiven im Film. Ein Beitrag, der im Rahmen der Themendossiers „Gender & Lieben“ sowie „Migration“ entstanden ist. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
Polen, Deutschland, Norwegen 2024, Regie: Leiv Igor Devold, Kinostart: 01.02.2024, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 97 Min., Buch: Justyna Bilik, Kamera: Patryk Kin, Schnitt: Øyvinn Haugrud Kastnes, Ida Vennerød Kolstø, Tomasz Maczka, Musik: Florian Tessloff, Produktion: Spætt Film, Verleih: Salzgeber & Company Medien, Besetzung: Øyvind Brandtzæg (Björn), Izabella Dudziak (Julia), Runar Koteng Frønes (Fabrikarbeiter), Hubert Milkowski (Robert), Jakub Sierenberg (Marek)
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