Was ist Kinderfilm? | | von Haro Senft

Freies Spiel(en)

Was ist ein Kinderfilm? Diese Frage könnte auch als Intelligenztest verstanden werden, um zu erfahren, wie die Autoren versuchen, sich aus dieser Schlinge zu befreien. Was ist ein Erwachsenenfilm? Das würde ja niemand fragen. Sicher mag es einige Bedenken geben, Kindern nicht die Flut der Konsumware zu zeigen, die heute im Fernsehen oder Kino angeboten wird. Es ist ja sogar bedenklich, diese Fülle von Morden oder Kriminalfällen den Erwachsenen zuzumuten. Ich will auch nicht ein indisches Kinozelt als Vergleich anführen, in dem alle Generationen vom Säugling bis zum Greis einträchtig vor der Leinwand sitzen und jeden Film gemeinsam gucken. Horst Schäfer, der ehemalige Leiter des Kinder- und Jugendfilmzentrums, schrieb in einer Rezension meiner Biografie: „Maxim Gorki wurde einmal gefragt: Wie muss man schreiben. wenn man für Kinder schreibt? Seine Antwort: Wie für Erwachsene, nur besser! Im übertragenen Sinne gilt dies auch für das Selbstverständnis des Filmemachers Haro Senft.“ Damit kann ich mich einverstanden erklären, denn das sollte auch das oberste Gebot für alle sein, die Kinderfilme machen.

Das Angebot, einen „realen“ Kinderfilm zu machen, kam für mich völlig überraschend, und ich lehnte es zunächst aus Mangel jeglicher Erfahrung strikt ab. Wäre da nicht auch noch eine Katze ins Spiel gekommen, hätte ich der Intuition des ZDF-Redakteurs widerstanden, mich für den Pilotfilm der „Rappelkiste“ anzuwerben. Zunächst fragte ich mich, was ich nicht wollte. Ich wollte keine Kinder erleben, die von Erwachsenen erfundene Texte auswendig lernen mussten. Kinder können auch das sehr gut – die meisten sind zunächst hervorragende Darsteller. Mir kam entgegen, dass die Themen aus dem Lebensbereich und den Konflikten der Vorschulkinder gefunden wurden. Da half mir meine Erfahrung mit dem Dokumentarfilm, ein System zu entwickeln, das ich letztlich „Freispielmethode“ nannte.

Die Kinder erkannten später sofort ihre eigene Welt und begannen, schnell und unbefangen über eigene, ähnliche Erlebnisse zu plaudern. Ich weiß, dass dieses Verfahren nicht überall anwendbar ist, aber mehr Vertrauen – auch bei Spielfilmen – in eine Thematik, die dem realen Leben der Kinder näher ist, wäre schon angebracht. Die verbreitete Meinung, alles „Pädagogische“ sei von Übel, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden.

Sicher wirkt jede „Zeigefingerpädagogik“ nirgends so penetrant wie im Film – nur hat sich da inzwischen auch viel verändert. Schon die „Rappelkiste“ bezog ihr theoretisches Konzept von der Vorschulabteilung des Deutschen Jugendinstituts in München. Prof. Dr. Jürgen Zimmer ist es auch zu verdanken, dass die Methode „Situationsansatz“ zu einem international anerkannten pädagogischen Programm ausgearbeitet wurde, die auch dem Film viel Freiheit eröffnete und bei mir zu neuen Formen der Dreharbeit führte. Sie ermöglichte ein Beobachten der Kinder und ließ ihnen die Möglichkeit, nach eigenem Willen zu agieren.

Wir waren selbst überrascht, wie schnell sich das Selbstbewusstsein der Kinder nach nur ein paar Drehtagen stärkte. Die Abgrenzung zum „Erwachsenenfilm“ fällt selbst den beauftragten Bewertungsgremien schwer. Bei meinem Spielfilm „Ein Tag mit dem Wind“ (1979) führte der Arbeitsausschuss der Filmbewertungsanstalt an: „Der Ausschuss war sich darin einig, dass der Film in der Form eines ‚Stationsromans‘ die Entwicklungsgeschichte eines Jungen in seiner konkreten Phase der Frühpubertät wiedergibt, gleichzeitig aber auch im poetischen Realismus des Märchens eine Parabel vergegenwärtigt, die weniger an Jugendliche und Kinder, vielmehr an Erwachsene sich wendet. Gerade gegenüber dieser Divergenz erhoben sich die Einwände der Mehrheit, die diese Widersprüche als im Film unübersehbar, als in seinem Konzept aber nicht angelegt und noch weniger als aufgehoben verstehen musste.“ Der Hauptausschuss entgegnete nach dem Widerspruch: „In der Diskussion bestand Einigkeit darüber, dass es für die Einschätzung der Qualität dieses Films unerheblich ist, ob er sich an Kinder oder aber an Erwachsene wendet, da er sowohl Kindern als auch Erwachsenen wichtige Erlebnisse vermittelt.“

Vielfältig sind auch die Bedenken, die oft durch Eltern oder Erzieher zu grotesken Verboten führen: Zwei Kinder, die allein am naturnahen Stadtrand spielen, sollen nicht barfuß in einen fünf Zentimeter tiefen Bach steigen dürfen. Ein Mitglied des Münchner Stadtrats wollte meinen Kurzfilm „Montag“ verboten wissen, weil unter etwa 15 verschiedenen Tieren auch ein Tiger auftauchte. Der Grund: Seine Tochter hätte eine Tigerphobie. Und das in einer Zeit, in der einem an jeder dritten Tankstelle ein Tiger entgegensprang. Das sind keine extremen Beispiele – den „Erwachsenen“ fällt da laufend schon sehr viel ein. Und das, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welcher Realität und welchen Einflüssen durch das Fernsehen Kinder täglich ausgesetzt sind. Bei der Überlegung, vernünftige und der Realität entsprechende Grenzen zu ziehen, sollte bedacht werden, dass wir Kinder nicht als einheitliche Gruppe von drei bis zwölf Jahren annehmen dürfen. Die Altersabschnitte und Entwicklungsstufen wurden bisher in keiner Weise berücksichtigt, obwohl bekannt ist, dass sie den Menschen lebenslang prägen.

Noch ein Wort zur Qualität der Filme und ihrem Verständnis: Es ist ein alter Traum, man möge doch das Fach „Filmkunst“ in Schulen einführen, damit das Wissen um diese wichtige Ausdrucksform zum Bildungsbestandteil der Allgemeinheit wird. Wir sind heute weiter von diesem Wissen entfernt als je zuvor. Ich hörte von einer Erzieherin in einer Vorschule, dass es beim Start eines Schmalfilms eine technische Panne gab. Der Film wurde ohne Anfang vorgeführt, dieser dann aber im Anschluss ans Ende gezeigt, um ihn zu „vervollständigen“. Nie hatte diese gutgesinnte Person davon gehört, dass der Gehalt und Sinn jeder Einstellung und jeder Szene im Film durch alle vorausgegangenen mitbestimmt wird.

Haro Senft Geb. 27.9.1928 im böhmischen Budweis ab 1954 Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme 1961 „Oscar“-Nominierung für „Kahl“ 1962 Mitinitiator des Oberhausener Manifests, seitdem filmpolitische Tätigkeit; Sprecher bzw. Vorstand von DOC 59, der Oberhausener Gruppe und der Arbeitsgemeinschaft neuer deutscher Spielfilmproduzenten e.V. 1964 Deutscher Filmpreis für „Auto Auto“ 1966/67 Erster Spielfilm „Der sanfte Lauf“ seit den 1970er-Jahren Engagement für den deutschen Kinderfilm; Kuratoriumsmitglied Förderverein Deutscher Kinderfilm (bis 1998) 1971 „Fegefeuer“ 1972 „An irgend einem Tag” 1977/78 „Ein Tag mit dem Wind“ 1987 „Jakob hinter der blauen Tür“ Biografie: „Vogelfrei im Zauberbaum – Aus dem Leben des Filmrebellen Haro Senft“ von Michaela S. Ast. Karl Stutz Verlag, Passau 2013. DVD-Edition: „Der sanfte Lauf“ plus sieben Kurzfilme. Anbieter: absolut MEDIEN

Dieser Beitrag erschien zum ersten Mal in der Filmdienst-Beilage "Kinder- und Jugendfilm-Korrespondenz" (3/2015). Die Wiedergabe des Artikels an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Filmdienst.

 

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