Was ist Jugendfilm? | | von Frank Münschke

In eine andere Welt

Grenzen des Jugendfilms

Wo beginnt der Jugendfilm? Wo endet er? Anders gefragt: Wann kann man überhaupt von einem Jugendfilm sprechen? Ein Blick auf Filme, die von Kindern erzählen, die zu Jugendlichen werden, und von Jugendlichen, die zu Erwachsenen werden – wobei das Alter der Protagonist*innen sogar weniger entscheidend ist als die psychische Reife, die Themen und die Räume.

Standfoto aus mid90s
"mid90s" (c) MFA+, Tobin Yelland

In Jonah Hills Film „mid90s“ (2018) gibt es zu Beginn eine eindrückliche Szene: Die Hauptfigur Stevie fährt auf einem BMX-Rad durch die Straßen von Los Angeles. Er bleibt stehen und beobachtet zwei Kinder, die mit Wasserpistolen herumspritzen. Nur wenige Meter daneben steht eine Gruppe von jugendlichen Skatern: Sie geben sich cool, reden obszön, provozieren Erwachsene. Stevie lächelt. Kurz darauf betritt er – mit gesenktem Blick und zögerlichen Bewegungen – den Skateshop, in dem die Jugendlichen abhängen. Er überwindet dadurch eine Schwelle und betritt eine neue und für ihn faszinierende Welt. Im weiteren Verlauf des Films wird Stevies Reifungsgeschichte erzählt: Er entwickelt eine Leidenschaft für das Skaten, er raucht, er trinkt, sammelt erste sexuelle Erfahrungen. Das sind alles typische Initiationsriten der Jugend und der Film konzentriert sich auf diese Momente des Übergangs. Das Austarieren dieser Grenzziehung zwischen Kindheit und Jugend wird dabei immer wieder visualisiert, so verändern sich im Laufe des Films etwa auch die Poster, Sticker und Devotionalien in Stevies Kinder- beziehungsweise Jugendzimmer.

Reife – Themen – Räume

„mid90s“ ist ein Film über eine Figur, die sich von ihrem vertrauten kindlichen Umfeld löst und erstmalig (und nachdrücklich) mit Fragen der Jugend und der Adoleszenz konfrontiert wird. Er steht damit nicht alleine in der Kinogeschichte, ganz im Gegenteil: „Stand by Me“ (Rob Reiner, 1986), „Thirteen“ (Catherine Hardwick, Nikki Reed, 2003), „Eighth Grade“ (Bo Burnham, 2018), und „Close“ (Lukas Dhont, 2022) sind nur einige weitere Filme, die sich ebenfalls für den Übergang zwischen Kindheit und Jugend interessieren. Wenn Jugendfilme als Filme über Jugend verstanden werden, wird mit Blick auf die genannten Filme auch das untere Ende der Filmgruppe markiert. Das Alter der Protagonist*innen funktioniert dabei nicht als eindeutiges Merkmal für eine Grenzziehung zwischen Kindheit und Jugend beziehungsweise zwischen Kinderfilmen und Jugendfilmen. In „Welcome to the Dollhouse“ (1995) von Todd Solondz muss sich die elfjährige Dawn Wiener den typischen Herausforderungen der Jugend und der Adoleszenz stellen, es geht um Fragen der Sexualität, es geht um Abgrenzung von gewohnten Lebensweisen, um Identitätsfindung. In Marcus H. Rosenmüllers Film „Wer früher stirbt, ist länger tot“ (2006) ist die Hauptfigur auch elf Jahre alt, doch die gezeigte Welt ist deutlich stärker kindlich geprägt.

Standfoto aus Close
"Close" (c) Menuet/Diaphana Films/Topkapi Films/Versus Production

Der Blick richtet sich also vielmehr auf psychosoziale und körperliche Entwicklungsprozesse der Figuren, auf typische Themen der Jugend (wie zum Beispiel Identitätssuche, Sexualität, Konfrontation mit den Erwachsenen, gesellschaftlichen Gruppen und staatlichen Vertreter*innen) und auf Räume, die jugendlich konnotiert sind. Dazu gehören vor allem die Schule, das Elternhaus und Orte der Freizeitgestaltung. Solche Orte können zum Beispiel Clubs sein, Sportplätze, Bushaltestellen oder auch Kinos. Es sind Räume, die – im Unterschied zur Schule und dem Elternhaus – nicht unter der Kontrolle der Erwachsenen stehen. Diese drei Merkmale – also jugendliche Figuren, jugendliche Themen und jugendliche Räume – können insgesamt als zentrale Konventionen des Jugendfilms angesehen werden; und stellen gleichzeitig die zentralen Merkmale dar, um die untere Grenze des Jugendfilms zu bestimmen. Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Wäre Stevie aus „mid90s“ etwas jünger, hätte er möglicherweise die beiden Jungs mit ihren Wasserspritzpistolen angesprochen und es wäre eine kindliche Geschichte erzählt worden.

Zwischen Jugend und Erwachsensein

Es gibt zudem eine Vielzahl von Jugendfilmproduktionen, die sich mit dem Übergang beziehungsweise der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsensein beschäftigen und sich auf die letzten Tage/Wochen/Monate der Jugend fokussieren. In diesen Filmen geht es darum, sich von einer jugendlichen Lebenswelt zu verabschieden, die Schule wird verlassen, oftmals auch das Elternhaus. Nachdrücklich wird das zum Beispiel in „Boyhood“ (2014) von Richard Linklater gezeigt. Am Ende des Films verabschiedet sich die Hauptfigur Mason von seiner Mutter. Anschließend fährt er in seinem Auto Richtung College. Die Straße als plastische Schwelle symbolisiert dabei den Übergang. Mason dreht während der Fahrt die Musik lauter: Es läuft „Hero“ von „Family of the Year“. Die Lyrics passen perfekt zur Phase des Übergangs – der Song trägt Mason über die Schwelle. Ohnehin: Waren es in den Halbstarkenfilmen der 1950er-Jahre noch Rock 'n' Roll-Songs, die sinnbildlich für eine aufbegehrende und subkulturell geprägte Jugend standen, sind es heute vor allem Lieder aus dem Bereich Indie-Pop und -Rock, die den Soundtrack vieler Jugendfilme ausmachen.

Standfoto aus Lady Bird
"Lady Bird" (c) Universal

Aber zurück zu den Übergängen am Ende der Jugend: Auch in Greta Gerwigs „Lady Bird“ (2017) verlässt die Protagonistin Christine am Ende des Films ihre kalifornische Heimat und beginnt ein Studium in New York. Der ganze Film ist auf diesen Schwellenübertritt ausgerichtet. Doch auch wenn die jugendliche Lebenswelt verlassen wird – die Fragen, Probleme und Herausforderungen der Identitätsfindung bleiben. Die Figuren sind zwar in den meisten Fällen gereift, aber noch lange nicht am Ende ihrer Selbstfindung. Das wird in „Lady Bird“ deutlich oder aber auch in „Y tu mamá también“ (2001): In Alfonso Cuaróns Film brechen die beiden jugendlichen Hauptfiguren zu einem Roadtrip auf, um (scheinbar) das letzte Mal frei sein zu können. Am Ende der filmischen Erzählung sind sie zwar reifer als zuvor, aber ihren Platz in der Welt haben sie noch nicht gefunden.

Überall Schwellen

Was sowohl die untere Grenze als auch die obere Grenze des Jugendfilms verbindet, sind die Übergänge von einer Welt in eine andere, die in Form von Schwellensituationen dargestellt werden und die mit Fragen der Identitätsfindung einhergehen, kurzum: in Form von Coming-of-Age-Storys. Die Filme erzählen damit einhergehend Geschichten von Unbeschwertheit, großen und kleinen Lebensfragen, existentiellen Krisen und der Brüchigkeit von Zuständen. Und das interessiert wiederum die jugendlichen (und erwachsenen) Zuschauer*innen. Denn: In den meisten Fällen sind Filme über die Lebensphase Jugend auch Filme für Jugendliche (aber nicht nur). Die Zustände der Krise und die Herausforderungen der Jugend gehen mit Konflikten und Entwicklungspotenzialen der Figuren einher. Wir fiebern mit ihnen, weil wir ihre Probleme aus unseren eigenen Leben kennen oder kannten, weil wir ihre Fragen auch stellen oder stellten – dabei spielt es keine Rolle, ob die Filme in Los Angeles, Wallonien oder Mexico City spielen.

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